347

Rio de Janeiro steht für weiße Strände, schwarze Schönheiten, Sonne, Fußball, Samba, Karneval und Lebenslust, aber auch für die Favelas genannten Armenviertel, Straßenkinder und Gewalt. So richtig es ist, dass all dies zu Rio gehört, so falsch ist es natürlich, die Stadt darauf zu reduzieren. Denn genauso gibt es jede Menge Märkte und Universitäten, Verkehrsstaus und Theater, Fernsehstudios und Schwulenbars, Einkaufszentren und Glücksspiel, ergiebige Regengüsse und Evangelikale, Kilo-Restaurants und StraßenhändlerInnen – Merkmale, die der Stadt aber höchst selten zugeordnet werden, weil sie weder auffällig exotisch noch besonders grausam sind.

Interessanterweise existiert die Vielzahl der langlebigen Rio-Klischees nicht nur in den Köpfen von EuropäerInnen, sondern auch in der Vorstellung der meisten BrasilianerInnen und sogar bei den Cariocas, den BewohnerInnen Rios, selbst. Solche Fremd- und Selbstzuschreibungen sind natürlich keineswegs exklusiv für Rio. So glauben auch viele Menschen in Deutschland, die RheinländerInnen und besonders die KölnerInnen seien besonders fröhliche und gesellige Menschen, die an Karneval alljährlich für einige Tage den Verstand verlieren. Auch da ist natürlich etwas dran, aber der Anteil der KölnerInnen, denen oberflächliche Geselligkeit suspekt und Karneval eher ein Grund zur Flucht ist, dürfte auch nicht niedriger liegen als in Rio de Janeiro.

Rio war bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts die brasilianische Metropole und das ökonomische und politische Zentrum des größten Landes Lateinamerikas. Diesen Rang hat es längst verloren. Hauptstadt und politisches Zentrum ist heute Brasilia, Wirtschaftsmetropole São Paulo. Zwischen Rio de Janeiro und São Paulo, den beiden (für brasilianische Verhältnisse) nahe beieinander liegenden Megacities (Luftlinie 350 Kilometer) herrscht eine lange und tiefe Rivalität. Und es existieren Unmengen von Witzen übereinander und gegenseitige Klischees, wobei auch all die oben genannten zur Charakterisierung von Rio benutzt werden. Das erste Städteheft, das wir einer brasilianischen Metropole gewidmet hatten, war übrigens vor genau zehn Jahren die ila 247 über São Paulo – die Cariocas mögen uns das verzeihen.

Nach dem politischen und wirtschaftlichen Bedeutungsverlust der letzten Jahrzehnte wird in Rio in den letzten Jahren investiert wie selten zuvor in seiner Geschichte. Die Stadt rüstet sich für die großen Megaevents in den nächsten Jahren, die UN-Umweltkonferenz 2012, die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Sommerspiele 2016. Diese Ereignisse werfen schon längst ihre Schatten voraus, ein gigantischer Bauboom, als dessen Voraussetzung aber auch – genauso wie bei der Fußball-WM in Südafrika oder den Olympischen Spielen in Atlanta und Barcelona – alteingesessene BewohnerInnen aus ihren Stadtvierteln vertrieben werden.

Also vieles, worüber es sich in einem ila-Stadtschwerpunkt zu berichten lohnt. Wie immer in unseren Metropolenheften nähern wir uns auch der Stadt Rio von ganz unterschiedlichen Zugängen aus an. Entsprechend vielfältig ist das Themenspektrum. Und wie so häufig wäre auch diese Ausgabe nicht ohne Hilfe und Kompetenz von außen zustande gekommen. Ein besonderes Dankeschön geht diesmal an Friederike Strack und Andreas Behn, die in Rio Kontakte geknüpft, Beiträge organisiert und – Friederike – auch den größten Teil der Fotos beigetragen haben.

Wie immer verabschieden wir uns mit der Juli-Ausgabe in die Sommerpause. Die nächste ila erscheint Mitte September. Wir wünschen all unseren LeserInnen einen schönen und angenehmen Sommer.

Wenn Ihnen/euch diese oder andere Ausgaben der ila besonders gefallen, empfehlt sie bitte weiter! Um als unabhängiges Medienprojekt überleben zu können, brauchen wir schließlich Ihre/eure Abos und Einzelheftbestellungen.)