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Sumaq kawsay, buen vivir, Gutes Leben – wer wollte das nicht? So wundert es nicht, dass das in Lateinamerika diskutierte Konzept des buen vivir auch in Europa zunehmend auf Resonanz stößt. Doch was wird darunter verstanden? Auch wenn die Assoziation nahe läge, gehe es nicht um das, was in Italien dolce vita (süßes Leben) genannt wird, also primär ein auf Genuss ausgerichtetes Leben, meinte einer unserer Autoren. Sicher hat Genuss im buen vivir seinen Platz, aber anders als beim dolce vita ist es explizites Ziel, dass alle Menschen am guten Leben partizipieren können. Gemeint sind also ein politisches Modell und eine soziale Praxis, die die ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Menschen befriedigen und im Einklang mit den ökologischen Bedingungen stehen. Buen vivir versteht sich ausdrücklich als Gegenentwurf zu einem einseitig wachstumsorientierten Entwicklungsbegriff.

Am Beispiel Verkehr würde das etwa bedeuten, dass eine Verkehrspolitik darauf abzielen müsste, allen Menschen ein gewisses Maß an Mobilität zu ermöglichen – ohne individuelle Pkw versteht sich. Aber auch jenseits des Individualverkehrs wäre zu fragen, wie viel Mobilität die Menschen brauchen, um gut zu leben. Es ist sicher Unsinn, dass Joghurt in Bechern von Italien nach Deutschland transportiert wird und Joghurt in anderen Bechern von Deutschland nach Italien. Das nützt nur denjenigen, die mit dem Import/Export von Joghurt Geld verdienen. Schwieriger ist da schon die Frage, wie viele Reisen mit welchen Verkehrsmitteln sozial und ökologisch vertretbar sind.

Dabei spielen natürlich subjektive Wahrnehmungen eine wichtige Rolle. Ein Beispiel: Mit nur fünf Prozent des CO2-Ausstoßes der US-AmerikanerInnen erreichen die CubanerInnen das gleiche Durchschnittsalter wie ihre Nachbarn im Norden. Das heißt, die CubanerInnen leben ökologisch korrekt so gut und gesund, dass sie deutlich älter als die BewohnerInnen fast aller Dritt-Welt-Länder werden. Auch bei anderen sozialen Indikatoren steht Cuba gut da. Trotzdem glauben viele CubanerInnen, in einer Gesellschaft, die vom Mangel geprägt ist, eher schlecht zu leben. Was ihnen – und einem großen Teil der Menschen in der Welt – als „gutes Leben“ erscheint, ist der Lebensstil des Mittelstands in den Metropolen, wie ihn deren Film- und Fernsehindustrie darstellt und weltweit verbreitet. Dabei ist es genau das diesem Lebensstil zugrunde liegende kapitalistische Wirtschaftsmodell, das ständig neue Krisen produziert (Finanzkrise, Ernährungskrise, Klimaerwärmung) und dabei ist, die Lebensgrundlagen eines großen Teils der Menschheit zu vernichten.

Es ist also dringlich, über Alternativen zu dieser destruktiven Produktionsweise zu diskutieren. Aber das genannte Beispiel Cuba macht auch klar, dass es nicht ausreicht, darüber nachzudenken, wie ein ökologisch und sozial angemessenes „gutes“ Leben für alle Menschen aussehen kann, sondern auch darüber, wie ein breiter gesellschaftlicher Konsens dazu erreicht werden kann. Dafür ist auch maßgebend, in welchem Umfang die Menschen über ihr Leben und ihre Arbeit (oder auch Nichtarbeit) selbst bestimmen können. Eine weitere Frage ist, wie viel Differenz und unterschiedliche Lebensformen in einem solchen Konzept koexistieren können. In den neuen Verfassungen von Bolivien und Ecuador hat die Herstellung der Bedingungen für ein gutes Leben Verfassungsrang, ist also Ziel staatlicher Politik.

Das sind erstmal nur Worte, aber sie haben eine breite Debatte darüber ausgelöst, in welche Richtung es politisch gehen soll. Wie leicht das Verfassungsmandat in die Mühlen wirtschaftlicher und politischer Interessen gerät, zeigt die aktuelle Auseinandersetzung um einen geplanten Straßenbau mitten durch das indigene Territorium und Naturschutzgebiet Isiboro-Secure im bolivianischen Tiefland. In diesem Kontext war es für die ila trotz wochenlanger Versuche nicht möglich, ein Interview vom bolivianischen Außenminister zu bekommen, der als einer der Verfechter des Konzepts des buen vivir gilt.

Derzeit sind die unter dem Ansatz buen vivir versammelten Vorschläge und Debatten noch sehr wenig konkret und damit natürlich auch weit entfernt davon, gesellschaftlich hegemonial zu sein. Aber die Debatte wird geführt, in Lateinamerika intensiver als bei uns. Ein ersten Einblick in diese Diskussion zu geben, ist das Ziel dieser ila.

Der Schwerpunkt zum buen vivir ist ausschließlich mit Fotos des uruguayischen Fotografen und Webdesigners Santiago Flores illustriert. Santiago ist seit Mitte der 90er Jahre in alternativen Medien in Uruguay tätig und hat zahlreiche Mobilisierungen und Ereignisse fotografisch dokumentiert. Dabei ist es ihm wichtig, nicht nur diese Kämpfe einem breiteren Publikum zugänglich zu machen und sie zu unterstützen, sondern auch die Identität und Wertschätzung ihrer Protagonisten und Protagonistinnen zu stärken. Ihm und allen anderen, die Beiträge und Ideen zu dieser Ausgabe beigesteuert haben, dankt die ila-Redaktion ganz herzlich für ihre Unterstützung.