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In den letzten Jahren sah es in Lateinamerika nach einer Renaissance der Atomkraft aus. Neben Argentinien, Brasilien und Mexiko, wo seit langem Atomkraftwerke in Betrieb sind, hatten weitere Länder wie Chile, Uruguay und Venezuela mehr oder weniger weit fortgeschrittene Planungen zur Errichtung kerntechnischer Anlagen.
Eigentlich hätte es sich auch in Lateinamerika längst herumgesprochen haben müssen: Atomkraft ist eine Energieform der Vergangenheit. Die globalen Zahlen sprechen für sich. Seit 2010 – lange vor Fukushima – übersteigt die Menge der von den Wind-, Biomasse-, Müllverbrennungs- und Solaranlagen produzierbaren Energie diejenige von AKWs. Im April 2011, wenige Tage nach dem Desaster in Japan, waren weltweit noch 437 AKWs am Netz. Das waren sieben weniger als 2002. In Europa lieferten 143 AKWs Strom. 1989 waren es noch 177 gewesen. Tendenz bekanntlich weiter fallend.

Der Mythos: schnell, billig und klimarettend hat sich längst erledigt. Bauzeiten ziehen sich oft mehrere Jahrzehnte hin. Keine schnelle Lösung also für Energieengpässe. Kosten steigen allein schon bis zur Fertigstellung der AKWs regelmäßig ins Astronomische. Geradestehen müssen die Staaten dafür, also letztlich die SteuerzahlerInnen. Denn während alle möglichen Energiequellen in den Händen Privater sind, sind AKWs in Lateinamerika unverkäuflich. Selbst die neoliberalste Regierung bleibt auf ihnen sitzen. So versilberte Argentiniens Präsident Menem in den 90er Jahren alles, was in seinem Staate auch nur einen Pfifferling wert war. Außer den Atomkraftwerken. Die wollte niemand haben.

Es sind also andere Gründe, die beinahe die Renaissance der Atomkraft in Lateinamerika eingeleitet hätten. Hier wären vor allem das intensive Lobbying der Atomindustrie zu nennen. Fast wäre sie damit durchgekommen. Wenn Fukushima nicht gewesen wäre. Die Katastrophe in Japan machte die Risiken der Atomenergie noch einmal erschreckend deutlich. Dazu kommt, dass Kernkraftwerke nun noch teurer würden, weil weitaus mehr in Sicherheitstechnik investiert werden müsste. Deshalb wächst auch in Lateinamerika inzwischen die Skepsis. So erklärte der bolivianische Präsident Evo Morales nach den Ereignissen in Japan: „Ich hatte die Hoffnung, dass Bolivien Atomkraft bekommen würde – nicht Atombomben. Aber jetzt muss ich feststellen, dass ich mich vielleicht geirrt habe, und nun muss man nachdenken. Südamerika sollte frei von Atomkraft sein, um das Leben der Bolivianer, der Südamerikaner und der Lateinamerikaner zu verteidigen.“ Die venezolanische Regierung erklärte, die Kooperation mit Russland zum Bau mehrerer Kernkraftwerke nicht weiter verfolgen zu wollen.

Dagegen halten die Atomkraft nutzenden Länder Argentinien, Brasilien und Mexiko an der Technik fest, Chile hat kurz nach Fukushima einen Atomvertrag mit den USA abgeschlossen. Allerdings nehmen die Proteste gegen die Atomprogramme zu, die vor allem von Nichtregierungsorganisationen, kritischen WissenschaftlerInnen und AnwohnerInnen in der Umgebung von Atomanlagen und Uranminen getragen werden.
Die brasilianische Regierung plant indessen den Weiterbau des 1976 in Deutschland gekauften Atomkraftwerks Angra 3. Mit dessen Bau wurde 1980 begonnen, seit 1987 ruhen die Bauarbeiten. Und nun soll es doch noch fertig gebaut werden. Ob es dazu kommt, hängt allerdings maßgeblich von der deutschen Bundesregierung ab. Denn die Unternehmen Avera NP/Siemens werden die entsprechende Technologie nur liefern, wenn die Bundesregierung dieses Geschäft mit einer Hermes-Exportbürgschaft absichert. Dazu hat sie grünes Licht gegeben, auch wenn die Entscheidung noch nicht endgültig ist. Dagegen gilt es zu protestieren. Es wäre geradezu zynisch, wenn die Bundesrepublik Deutschland wegen der enormen Risiken aus der Atomenergie aussteigt, deutsche Unternehmen aber eine längst veraltete Anlage nach Brasilien exportieren und die Bundesregierung dies durch Exportbürgschaften absichert!

P.S. Die vorliegende ila markiert ein kleines Jubiläum, es ist die 350. Ausgabe. Mit ihr wird die Zeitschrift 35 Jahre alt. Wir sind natürlich etwas stolz darauf, dass wir als unabhängiges politisches Projekt dieses Alter erreicht haben. Damit wir weiterhin erscheinen können, brauchen wir aber dringend neue AbonnentInnen und Spenden. Wie immer im November liegt diesem Heft unser Brief zum Jahresende bei, mit dem wir die LeserInnen bitten, uns bei der Abowerbung und mit Spenden zu unterstützen. Wir würden uns sehr freuen, wenn viele darauf positiv reagierten.