September 1993, Santiago de Chile. In der Población Angela Davis, einem ärmeren Stadtteil im Norden der Metropole feiern die BewohnerInnen anlässlich der Fiestas patrias, der Nationalfeiertage. Zu trinken gibt es Bier und Chicha, zu essen Empanadas. Die obligatorische Tanzeinlage auf der Bühne darf nicht fehlen, eine Cueca, der chilenische Nationaltanz. Den Rest der Nacht tanzen alle – zu Cumbia. „Schäferin, schöne Schäferin, wie einsam bist du auf dem Feld. Schäferin, du arme Verlassene, ohne Trost bist du auf dem Feld“. Shuck shucka shuck shucka shuck shucka shuck, so drang der Rhythmus in die Beine. Der komische Herzschmerzkitsch, den Adrian und seine Dados Negros da von sich gaben, war Nebensache. Grelle Keyboards drängten sich in den Gehörgang, melancholische andine Melodik berührte das Herz. Der erste Vollkontakt mit Cumbia – wie im Bilderbuch: Tanzend, inmitten einer Menge schwitzender, flirtender, vergessender Menschen. Auch Chile ist also Cumbia-Terrain. Besagter Adrian wurde übrigens in Bolivien geboren, wuchs in Nordargentinien auf und wanderte dann nach Chile aus. In Buenos Aires fühlte er sich von der Polizei diskriminiert, wie er in einem Blog erzählt. Im Chile der 1990er Jahre wurde er zum Star. Die Musikkassette mit dem Hit von der pastorcita, der schönen Schäferin, gab es dann allerdings einige Jahre später auch auf einem südmexikanischen Busbahnhof zu kaufen.

Diese Episode veranschaulicht sehr schön den transkulturellen Werdegang der Cumbia. Sie ist ein zähes Kraut, diese Cumbia, fast wie Löwenzahn, lässt sich überall nieder, schlägt Wurzeln und ist nicht totzukriegen. In der Kolonialzeit als indigen-afrikanischer Tanz an der kolumbianischen Karibikküste entstanden, lange Zeit als Musik der Armen nicht beachtet, wird sie in den 1950er und -60er Jahren zur Goldgrube für die Schallplattenindustrie, die angesichts des in Folge der Blockade einbrechenden Exports cubanischer Tanzmusik einen Ersatz brauchte. Aus der afro-mestizischen Folklore mit indigenen Flöten und pittoresker Performanz (tanzende Frauen mit Kerzen auf dem Kopf) wird Big-Band-Musik für die Tanzsalons. Eine Zeit lang schien die „Einweißung“ des Genres erfolgreich und nachhaltig vollzogen.

Gleichzeitig verbreitete sie sich weiter und weiter. Es gibt praktisch kein spanischsprachiges lateinamerikanisches Land, in dem keine Cumbia läuft. Sie gelangte fast überall hin – und blieb. Und passte sich den regionalen Besonderheiten und Vorlieben an, so dass es heute unzählige Cumbia-Spielarten gibt. Allein in Mexiko sind fast ein Dutzend verschiedene Cumbia-Sorten bekannt, in Argentinien gar 15. In den Vorstädten der argentinischen Hauptstadt war es denn auch, dass die Cumbia wieder ihr ursprüngliches Gesicht zeigte, als Freizeitvergnügen der einfachen Leute, der armen EinwanderInnen aus Bolivien oder Paraguay. Und zur argentinischen Wirtschaftskrise vor zehn Jahren ertönten dann die rotzig-prolligen Songs der Cumbia Villera.

„Wenn der Blues universell ist, dann ist die Cumbia intergalaktisch“, große Worte schreibt er da nieder, William „Quantic“ Holland, im Booklet zu seiner vor kurzem erschienenen Doppel-CD „The Original Sound of Cumbia“. Noch großspuriger wird das zweite aktuelle Cumbia-Doppelalbum aus dem Hause Worldcircuit beworben: „Diese Kompilation wird für dich der Beweis sein, dass Gott existiert.“ Shuck shucka shuck – so klingt Metaphysik? Wobei, sie hat schon etwas Magisches. Dieser Groove bringt einfach ALLE zum Tanzen, der Rhythmus ist anpassungs- und wandlungsfähig zugleich und lässt sich hervorragend mit anderen Genres verbinden – New Yorker Salsa, peruanischer Huyano, puertoricanischer Reggaeton. Und sie ist eine Fundgrube an Samples für elektronische Soundtüftler, die im letzten Jahrzehnt eifrig an der elektronischen Wiedergeburt der Cumbia gebastelt haben. Erst in Form dieser sogenannten Cumbia Eléctronica oder Cumbia Digital ist sie auf Bühnen, in Radiostationen und DJ-Sets hierzulande gelangt, was wir sehr begrüßen. Doch über die Vorgeschichte ist bei uns wenig bekannt. Das will die vorliegende ila ändern.