Bob Marley? Klar. Reggae? Auch noch. Usain Bolt? Für ein paar Wochen. Aber ansonsten weiß man nichts Genaueres über Jamaica. Auch die Berichterstattung der ila konzentriert sich traditionell auf die spanischsprachigen Länder Lateinamerikas und der Karibik sowie auf Brasilien und Haiti. Weniger im Focus stehen die englischsprachigen Staaten auf den karibischen Inseln sowie in Mittel- und Südamerika (Belize, Guyana), ebenso die Territorien, in denen Niederländisch Amtssprache ist (Suriname, Curaçao, Aruba, Bonaire). Völlig zu Unrecht.
Ausschlaggebend für die Ungleichgewichtung sind keinesfalls Erwägungen im Hinblick auf ökonomisches oder politisches Gewicht, sondern mangelnde Kontakte. Der 50. Jahrestag der Unabhängigkeit Jamaicas im August dieses Jahres war uns deshalb Anlass, endlich einmal einen Länderschwerpunkt zu dieser größten Insel der englischsprachigen Karibik zusammenzustellen. Der gute Vorsatz entpuppte sich als echte Herausforderung. In Jamaica fehlen uns feste AnsprechpartnerInnen in sozialen Bewegungen und kritischen Nichtregierungsorganisationen. Wir hörten uns in unserem Umfeld und der Nord-Süd-Szene um. Mit der Zeit stießen wir auf Menschen, die sich selbst mit Jamaica beschäftigen, andere, die Kontakte zu Menschen herstellen konnten, die Land und Leute kennen, darunter eine ganze Reihe möglicher Autoren und Autorinnen. Die meisten darunter waren bereit, an dem Projekt Jamaica-Schwerpunkt mitzuarbeiten. Kurz und gut, am Ende wurde dieser Länderschwerpunkt sogar noch umfangreicher als die meisten anderen ila-Themenblöcke in den letzten Jahren.
Mit knapp drei Millionen EinwohnerInnen ist Jamaica nicht nur die größte, sondern auch die bevölkerungsreichste Insel der englischsprachigen Karibik. Wobei die Bezeichnung „englischsprachig“ zumindest differenziert werden muss. Zwar ist das Idiom der alten Kolonialmacht Amts-, Unterrichts-, Medien- und Literatursprache in Jamaica, im Alltag gesprochen wird aber Patois oder Patwa, eine auf dem Englischen basierende Kreolsprache mit Elementen und Begriffen aus dem Spanischen, Portugiesischen und verschiedenen westafrikanischen Sprachen.
Wir berichten in dieser Ausgabe ausführlich über die Themen, die mit Jamaica gemeinhin verbunden werden und die den besonderen Ruf dieser Insel begründen, allen voran etwas gründlicher über Reggae, dessen Vorläufer und Weiterentwicklungen. Ebenso über Usain Bolt und die anderen jamaicanischen SprinterInnen, die jüngst bei den Olympischen Spielen in London ihre Ausnahmestellung in der Welt einmal mehr eindrucksvoll in Szene setzten. Und natürlich auch über die Schönheit und große Vielfalt des Landes, die es zum Traumziel für ganz unterschiedliche soziale Gruppen machen, von den Freaks, die sich von Reggae und Rastafari angezogen fühlen, über die all-inclusive-UrlauberInnen, die Strand und Palmen in geschützten Ferienanlagen genießen wollen, bis zu SextouristInnen, darunter solchen, die dafür belohnt werden, dass sie den Leuten hierzulande besonders viele Versicherungen aufschwatzen.
Dabei weckt Jamaica keineswegs nur positive Assoziationen. Die Nachrichten, dass die Insel zu den Ländern mit den höchsten Mordraten weltweit gehört, sind längst bis nach Europa gedrungen. Aus den Milizen der beiden dominierenden politischen Parteien, die sich in den Wahlkämpfen der siebziger und achtziger Jahre blutige Schlachten lieferten, sind verschiedene kriminelle Banden entstanden, die den Drogenhandel und andere illegale Geschäfte auf der Insel kontrollieren. Auch wenn sie längst keine Parteimilizen mehr sind, sind die Verbindungen der organisierten Kriminalität zu den PolitikerInnen bis heute ein großes soziales und politisches Problem.
Über diese Themen hinaus beschäftigen wir uns in dieser Ausgabe natürlich auch mit der jüngeren Geschichte des Staates, der sich gerade anschickt, den politischen Kolonialismus endgültig zu beenden, das „Commonwealth“ zu verlassen und eine Republik zu werden, des Weiteren mit seiner Wirtschaft, in der die neokolonialen Abhängigkeitsstrukturen fortbestehen, mit der sozialen Realität, den Hintergründen der Rastafari-Bewegung und mit vielem mehr. Uns hat die Arbeit an der Ausgabe viel Spaß gemacht und eine ganze Menge neuer Erkenntnisse gebracht. Wir hoffen, dass es unseren LeserInnen ähnlich geht!