Es gibt sie in Köln und Berlin, vermutlich auch in anderen deutschen Städten: die Mohrenstraße – mitten im Stadtzentrum ein Hinweis auf die koloniale Vergangenheit Deutschlands und die mangelnde Bereitschaft zu deren Aufarbeitung. Schon seit Jahren drängen Gruppen wie die ISD (Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland) darauf, den abwertenden und erniedrigenden Namen dieser Straße – in Berlin gibt es sogar noch die gleichnamige U-Bahnstation – zu ändern, Königin-von-Saba-Straße oder May-Ayim-Straße werden als mögliche Alternativen genannt. In der Hinsicht gäbe es noch einiges zu tun. Ganze Siedlungen tragen Namen von Personen, die im Zuge des deutschen Kolonialismus geplündert, Kriege geführt, Menschen vergewaltigt, verschleppt und ermordet haben. So manches Denkmal huldigt rassistischen Generälen oder Forschern, so z.B. die Büste des Botanikers Carl Friedrich Philipp von Martius in München. Auf seiner Brasilienreise Anfang des 19. Jahrhunderts untersuchte er nicht nur Flora und Fauna, sondern verschleppte auch acht indigene Kinder zu Forschungszwecken; nur zwei kamen lebend in Europa an, starben aber ebenfalls nach wenigen Monaten. Martius’ eklatanter Rassismus ist in seinem Bericht „Reise in Brasilien in den Jahren 1817-1820“ nachzulesen, wo er über die indigenen Carirís und Sabujás schreibt: „Sie sind indolent, faul und träumerisch, stumpf für den Antrieb anderer als der niedrigsten Leidenschaften und stellen auch in ihren kleinlichen Gesichtszügen diesen Zustand von moralischer Verkümmerung dar.“

Alles nur olle Kamellen? Wir aufgeklärte Menschen sind darüber längst hinweg? Die Hartnäckigkeit, mit der sich diese kolonialen Orte halten, meist nur von kleinen gesellschaftlichen Gruppen in Frage gestellt, und die ebenso hartnäckigen (kolonial)rassistischen Stereotype in Schulbüchern, Bestsellern, Medienberichten, Gesetzen, bei Polizeikontrollen etc. – zeigen, dass die koloniale Vergangenheit mitnichten passé ist. Sie beeinflusst nach wie vor unsere Gesellschaften und unseren Blick auf die Welt. Willkommen im Postkolonialismus.

Der postkoloniale Ansatz in Wissenschaft und AktivistInnenkreisen beschäftigt sich mit den Nachwirkungen des Kolonialismus in ehemals kolonisierten und kolonisierenden Gesellschaften, vor allem mit den Herrschaftsverhältnissen, die sich dabei herausgebildet haben. Neben der diskursiven Ebene hat die Postkolonialität der Welt auch materielle Auswirkungen. Der peruanische Soziologe Aníbal Quijano zeigt in dem Konzept der „Kolonialität der Macht“, wie im Zuge der Kolonialisierung die rassistische Unterteilung von Menschen entwickelt wurde, um Sklaverei und andere ausbeuterische Arbeitsverhältnisse zu legitimieren. In die weltweiten Machtverhältnisse, insbesondere die kapitalistische Produktionsweise und die dominanten Wissensstrukturen, sind diese rassistischen Kategorien sozusagen eingeschrieben.

Das überwiegend aus lateinamerikanischen WissenschaftlerInnen bestehende Kollektiv Modernität/Kolonialität hat herausgearbeitet, dass die Moderne ein eurozentrischer Mythos ist, der im 18. Jahrhundert als ausschließlich europäische Erfahrung entstanden ist und die koloniale Expansion ausklammert, die ihrerseits Voraussetzung und nicht Folge der Moderne war. Diese Ausblendung des Kolonialismus hat gravierende Konsequenzen. Der palästinensische Schriftsteller Mourid Barghouti bringt es auf den Punkt: „Fang deine Geschichte mit einem ‚Zweitens‘ an und die Pfeile der Native Americans werden zu den eigentlichen Kriminellen und die Gewehre der Weißen zu Opfern. Es reicht, wenn deine Geschichte mit einem ‚Zweitens‘ beginnt, damit die Wut der Schwarzen gegenüber den Weißen barbarisch erscheint.“ So verwundert es nicht, dass die Unabhängigkeitskämpfe zur Befreiung der kolonisierten Länder in Europa oft als bedrohlich wahrgenommen wurden. Das erste Land, das sich als Kolonie befreite und unabhängig wurde, war Haiti. Viele TheoretikerInnen des postkolonialen Ansatzes beziehen sich darauf, doch im westlichen Geschichtsunterricht taucht dieser historische Meilenstein nicht auf. Die Ideen der postkolonialen Theorie bieten viele Anknüpfungspunkte, auch für die aktuelle Berichterstattung aus und über Lateinamerika – eine gute Gelegenheit also, einen ila-Schwerpunkt dazu herauszubringen.