Im Einleitungsbeitrag dieser ila beschreibt der in München lebende brasilianische Schriftsteller Zé do Rock die verzerrte Wahrnehmung seines Heimatlandes im deutschsprachigen Raum, die zudem von einem Extrem ins andere falle. Bestand Brasilien für die meisten deutschsprachigen Medien noch vor wenigen Jahren vor allem aus Favelas (Elendsvierteln), Straßenkindern und Gewalt, gelte es heute als Boomland. Und genau dieses Land ist 2013 Ehrengast der Frankfurter Buchmesse.
Natürlich geht es dabei auch irgendwo um Literatur, aber vor allem um einen lateinamerikanischen Wachstumsmarkt – auch in der Buchbranche. So meldet die Frankfurter Buchmesse unter der Überschrift „Rekordumsätze auf dem brasilianischen Buchmarkt“ auf ihrer Website, der brasilianische Buchmarkt entwickele sich dynamisch, allein im Jahr 2011 sei er um 7,4 Prozent auf ein Gesamtvolumen von 2,4 Milliarden US-Dollar gewachsen. Für die hohen Steigerungsraten macht die Website vor allem zwei Faktoren verantwortlich. Zum einen den Kaufkraftzuwachs der unteren Einkommensgruppen. Seit die Arbeiterpartei (PT) im Januar 2003 mit Lula erstmals den brasilianischen Präsidenten stellte, sind mehr als 20 Millionen Menschen aus den Unterschichten in die (untere) Mittelschicht aufgestiegen. Das heißt, sie verfügen über höhere Einkommen und können sich Dinge anschaffen, die sie sich früher nicht leisten konnten. Dazu gehören nicht nur Autos und Unterhaltungselektronik, sondern offensichtlich auch Bücher.
Diese gesteigerte Nachfrage – und hier kommen wir zum zweiten Grund, den die Frankfurter Buchmesse für die Umsatzsteigerungen im Buchmarkt nennt – hat zu höheren Auflagen und, verbunden mit einer Senkung der Mehrwertsteuer für Bücher im Jahr 2004, zu erheblichen Preissenkungen im Buchhandel gefügt. Berücksichtigt man dazu noch die verbesserten Bildungsangebote und -standards, wird klar, warum der brasilianische Buchmarkt sich so rasant entwickelt. Die Abkehr vom Neoliberalismus bedeutet somit nicht nur einen sozialen, sondern auch einen kulturellen Fortschritt.
Natürlich verzeichneten nicht die belletristische oder die historisch-soziale Literatur die größten Zuwachsraten, sondern wissenschaftliche, technische und berufsbezogene Fachbücher. Viele Menschen sehen heute die Möglichkeit eines sozialen Aufstieges durch Bildung und Selbststudium und möchten diese nutzen. Nichtsdestotrotz profitiert auch die brasilianische Literatur von der günstigen wirtschaftlichen Entwicklung und der (auch) auf sozialen Ausgleich zielenden Regierungspolitik.
Aber Leute lesen nicht plötzlich Bücher, nur weil sie etwas mehr Geld zur Verfügung haben. Sie tun das, weil die Literatur Dinge anspricht und Entwicklungen thematisiert, die sie selbst betreffen. So etwa den zunehmenden Leistungsdruck, die Angst zu versagen in einem Umfeld, das suggeriert, dass es jedeR schaffen kann, die fortschreitende Vereinsamung, die Schwierigkeit, Beziehungen zu leben und darin glücklich zu werden. Denn Literatur ist immer ein Ausdruck der sozialen Entwicklung und der Probleme, die gesellschaftlich relevant sind, zumindest für die geschmacksbildenden Schichten, vorwiegend aus der Mittelklasse. Offensichtlich sind deren Fragestellungen in Brasilien ähnlich wie in Europa.
Wenngleich die brasilianische Mittelschicht gegenwärtig rasant wächst, repräsentiert sie weiterhin den kleineren Teil der Gesellschaft. Die Mehrheit der knapp 200 Millionen BrasilianerInnen ist immer noch arm, auch wenn die Politik der letzten Jahre zumindest das absolute Elend deutlich reduziert und den Hunger weitgehend beendet hat. Andere soziale Probleme bestehen indessen fort: die Gewalt, die rassistische Diskriminierung, die Drogenkriminalität, die sozialen Konflikte auf dem Land und in den Armenvierteln der Städte. Auch dies ist Thema der brasilianischen Literatur, leider in vergleichsweise wenigen der Bücher, die in diesem Jahr anlässlich der Frankfurter Buchmesse auf Deutsch neu erscheinen.
Wir haben in dieser Ausgabe Beiträge über literarische Texte zusammengestellt, die ganz unterschiedliche Facetten der brasilianischen Gesellschaft aufgreifen. Dabei sind wir auf ebenso spannende wie unterhaltsame Bücher gestoßen und hoffen, diese auch unseren LeserInnen nahebringen zu können.