Das Lateinamerika-Magazin

365

Literatur aus Brasilien

Im Einleitungsbeitrag dieser ila beschreibt der in München lebende brasilianische  Schriftsteller Zé do Rock die verzerrte Wahrnehmung seines Heimatlandes im deutschsprachigen Raum, die zudem von einem Extrem ins andere falle. Bestand Brasilien für die meisten deutschsprachigen Medien noch vor wenigen Jahren vor allem aus Favelas (Elendsvierteln), Straßenkindern und Gewalt, gelte es heute als Boomland. Und genau dieses Land ist 2013 Ehrengast der Frankfurter Buchmesse.

 Natürlich geht es dabei auch irgendwo um Literatur, aber vor allem um einen lateinamerikanischen Wachstumsmarkt – auch in der Buchbranche. So meldet die Frankfurter Buchmesse unter der Überschrift „Rekordumsätze auf dem brasilianischen Buchmarkt“ auf ihrer Website, der brasilianische Buchmarkt entwickele sich dynamisch, allein im Jahr 2011 sei er um 7,4 Prozent auf ein Gesamtvolumen von 2,4 Milliarden US-Dollar gewachsen. Für die hohen Steigerungsraten macht die Website vor allem zwei Faktoren verantwortlich. Zum einen den Kaufkraftzuwachs der unteren Einkommensgruppen. Seit die Arbeiterpartei (PT) im Januar 2003 mit Lula erstmals den brasilianischen Präsidenten stellte, sind mehr als 20 Millionen Menschen aus den Unterschichten in die (untere) Mittelschicht aufgestiegen. Das heißt, sie verfügen über höhere Einkommen und können sich Dinge anschaffen, die sie sich früher nicht leisten konnten. Dazu gehören nicht nur Autos und Unterhaltungselektronik, sondern offensichtlich auch Bücher.

Diese gesteigerte Nachfrage – und hier kommen wir zum zweiten Grund, den die Frankfurter Buchmesse für die Umsatzsteigerungen im Buchmarkt nennt – hat zu höheren Auflagen und, verbunden mit einer Senkung der Mehrwertsteuer für Bücher im Jahr 2004, zu erheblichen Preissenkungen im Buchhandel gefügt. Berücksichtigt man dazu noch die verbesserten Bildungsangebote und -standards, wird klar, warum der brasilianische Buchmarkt sich so rasant entwickelt. Die Abkehr vom Neoliberalismus bedeutet somit nicht nur einen sozialen, sondern auch einen kulturellen Fortschritt.

Natürlich verzeichneten nicht die belletristische oder die historisch-soziale Literatur die größten Zuwachsraten, sondern wissenschaftliche, technische und berufsbezogene Fachbücher. Viele Menschen sehen heute die Möglichkeit eines sozialen Aufstieges durch Bildung und Selbststudium und möchten diese nutzen. Nichtsdestotrotz profitiert auch die brasilianische Literatur von der günstigen wirtschaftlichen Entwicklung und der (auch) auf sozialen Ausgleich zielenden Regierungspolitik.

Aber Leute lesen nicht plötzlich Bücher, nur weil sie etwas mehr Geld zur Verfügung haben. Sie tun das, weil die Literatur Dinge anspricht und Entwicklungen thematisiert, die sie selbst betreffen. So etwa den zunehmenden Leistungsdruck, die Angst zu versagen in einem Umfeld, das suggeriert, dass es jedeR schaffen kann, die fortschreitende Vereinsamung, die Schwierigkeit, Beziehungen zu leben und darin glücklich zu werden. Denn Literatur ist immer ein Ausdruck der sozialen Entwicklung und der Probleme, die gesellschaftlich relevant sind, zumindest für die geschmacksbildenden Schichten, vorwiegend aus der Mittelklasse. Offensichtlich sind deren Fragestellungen in Brasilien ähnlich wie in Europa.

Wenngleich die brasilianische Mittelschicht gegenwärtig rasant wächst, repräsentiert sie weiterhin den kleineren Teil der Gesellschaft. Die Mehrheit der knapp 200 Millionen BrasilianerInnen ist immer noch arm, auch wenn die Politik der letzten Jahre zumindest das absolute Elend deutlich reduziert und den Hunger weitgehend beendet hat. Andere soziale Probleme bestehen indessen fort: die Gewalt, die rassistische Diskriminierung, die Drogenkriminalität, die sozialen Konflikte auf dem Land und in den Armenvierteln der Städte. Auch dies ist Thema der brasilianischen Literatur, leider in vergleichsweise wenigen der Bücher, die in diesem Jahr anlässlich der Frankfurter Buchmesse auf Deutsch neu erscheinen.

Wir haben in dieser Ausgabe Beiträge über literarische Texte zusammengestellt, die ganz unterschiedliche Facetten der brasilianischen Gesellschaft aufgreifen. Dabei sind wir auf ebenso spannende wie unterhaltsame Bücher gestoßen und hoffen, diese auch unseren LeserInnen nahebringen zu können.


Schwerpunkt

4  Vileicht lernen die leut
impressionen eines braso-bayers in brasilien  / von Zé do Rock

8  Der brasilianische Don Quijote
Ein literarischer Schatz: Lima Barretos sarkastisch-komischer Roman über die Gründerjahre
der brasilianischen Republik aus dem Jahr 1911  / von Gaby Küppers

9  Nahe deinem wilden Herzen
In Erinnerung an Clarice Lispector (1920-1977)  / von Esther Andradi

12  Ronaldo Wrobel – Luis Krausz – Moacyr Scliar
Jüdische Erzähler aus Brasilien  / von Gert Eisenbürger und Gaby Küppers

17  Geschmacksproben
Ein Sammelband junger brasilianischer Literatur macht Lust auf mehr  / von Gaby Küppers

18  Nachbarn
Eine Kurzgeschichte von Ferréz

20  Verstörende Momentaufnahmen
Der Autor Luis Ruffato kreiert literarische Collagen  / von Gert Eisenbürger

21  Leopoldina, 5:37 h
Vorabdruck aus dem Roman „Mama, es geht mir gut“  / von Luiz Ruffato

22  Das Inselexperiment
Carola Saavedras bemerkenswerter Hörspielroman „Landschaft mit Dromedar“
/ von Gaby Küppers

23  Faszinierendes Puzzle
Beatriz Brachers Roman „Antonio“  / von Gaby Küppers

24  Raul
Vorabdruck aus dem Roman „Antonio“
von Beatriz Bracher

26  Krimiautorin?
Patrícia Melo wehrt sich gegen einfache Etikettierungen  / von Wolfgang Kaleck

27  Kein Land kann ungestraft 300 Jahre Sklaverei überstehen
Interview mit Eduardo Assis Duarte über die afrobrasilianische Literatur
/ von Margrit Klingler-Clavijo

29  Meiner Heimat Schmuck sind Palmen
Deutsche Übersetzungen brasilianischer Literatur in Brasilien  / von Klaus Küpper

32  Der Jäger der verlorenen Schätze
Die bibliographische Arbeit des Klaus Küpper  / von Gert Eisenbürger

33  Fünf Tage literarische Schaltstelle
Das jährliche Literaturfestival FLIP in Paraty/Brasilien  / von Johannes Kretschmer

35  Mit Literatur gegen Ausgrenzung
Die Biblioteca Parque de Manguinhos in einer Favela von Rio de Janeiro  / von Laura Burzywoda

Berichte & Hintergründe

38  Die Vollendung des Putschs
Der Rechtskonservative Horacio Cartes wird neuer Präsident Paraguays  / von Gert Eisenbürger

40  Spiel auf Zeit
Präsidentschaftswahlen in Venezuela  / von Michael Karrer

42  Wir wollen die Kontrollmentalität durchbrechen
Interview zum Bedingungslosen Grundeinkommen in Quatinga Velho, Brasilien
/ von Klaus Heß und Ina Hilse

45  Wir werden immer mehr, jetzt muss der Frieden her!
Kolumbien: Über eine Million Menschen demonstrierten am 9. April für den Frieden
/ von Helen Matthey

47  Es geht immer um Grund und Boden
Kolumbien: Interview mit Ulla Merkle über ihren Besuch bei der Friedensgemeinde von
San José de Apartadó  / von Bettina Reis

49  Zunehmende Militarisierung
Interview mit der honduranischen Journalistin und Menschrechtsverteidigerin Dina Meza
/ von Ina Hilse

51  Folgt bald die Ent-Täuschung?
Die ersten Personalentscheidungen des neuen Papstes machen wenig Hoffnung
/ von Manfred Etscheid

53  Kind seiner Zeit
Wie die Geschichte des Papstes die Geschichte der Kirche widerspiegelt  / von Kyle Barron

Kulturszene

54  Volljährig und vielseitig
Das Frankfurter Festival „Cuba im Film“ feiert seinen 18. Geburtstag
/ von Ute Evers, Andreas Hesse und Klaus-Peter Roth

55  Abschied von Alfredo Guevara (1925-2013)
/ von Ute Evers

56  Was uns der Film nicht erzählt
Die „¡NO!“-Kampagne in Chile  / von Emily Achtenberg

Solidaritätsbewegung

58  Kulturnotizen, Notizen aus der Bewegung, Impressum