In Mexiko gilt der Muttertag als einer der wichtigsten Familienfeiertage: Zu diesem Anlass dürfen Kinder die Schule schwänzen, werden große Familienfeste organisiert. Doch in diesem Jahr ist vielen Müttern nicht nach Feiern zu Mute gewesen. Die Rede ist von denjenigen Müttern, deren Kinder in den letzten Jahren „verschwunden“ sind. Während der Amtszeit des letzten mexikanischen Präsidenten, Felipe Calderón (2006-2012), im Zuge des verschärften „Anti-Drogenkrieges“ sind etwa 27 000 Personen verschwunden. Ähnlich wie in Argentinien, wo die Madres und später auch die Abuelas von der Plaza de Mayo nach ihren verschwundenen Kindern bzw. geraubten Enkeln fragten und eine Aufklärung und Bestrafung von Staatsverbrechen forderten, sind auch in Mexiko die Mütter politisch aktiv geworden. Mehr als 300 Mütter und andere Familienangehörige beteiligten sich Anfang Mai am „Zweiten Marsch der Nationalen Würde – Mütter auf der Suche nach ihren Söhnen, Töchtern und Gerechtigkeit“. Auf Schildern zeigten sie Porträts der Verschwundenen und ihre Hauptforderung: „Lebend sind sie mitgenommen worden, lebend wollen wir sie zurück!“. Zehn Mütter und ihre Familien begannen einen Hungerstreik vor dem Gebäude der Staatsanwaltschaft in Mexiko-Stadt und verlangten von Mexikos Präsident Peña Nieto eine persönliche Anhörung. Ende Mai gab die Regierung schließlich bekannt, dass zwölf MitarbeiterInnen der Generalstaatsanwaltschaft als SonderermittlerInnen nach den Verschwundenen suchen sollen. Immerhin ein kleiner Erfolg.
In den stark katholisch geprägten Gesellschaften Lateinamerikas hat die Familie stets eine wichtige Stellung eingenommen, einhergehend mit konservativ und patriarchal geprägten Wert- und Rollenvorstellungen. Diese Ansichten und Erwartungen sind zwar immer noch sehr wirkmächtig, doch sie kontrastieren mit den sich verändernden Realitäten: Rollenbilder sind theoretisch und praktisch aufgebrochen worden, die Erwerbsarbeit von Frauen hat zugenommen, die Geburtenrate geht auch in Lateinamerika zurück, was u. a. alternde Gesellschaften zur Folge hat. Die Feminisierung der Migration tut ihr Übriges, um traditionelle Familiengefüge ins Wanken zu bringen: Wenn Mütter ihre minderjährigen Kinder bei der Großmutter oder anderen weiblichen Familienangehörigen zurücklassen, um in anderen Regionen oder im Ausland für das Familieneinkommen zu sorgen, oft monate- oder jahrelang, hat dies gravierende Auswirkungen auf die Eltern-Kind-Bindung und Beziehung. Das kürzlich erschienene Buch „Skype-Mama“ bringt schon im Titel auf den Punkt, welche Rolle neue Medien für das Aufrechterhalten der Beziehung über mehrere Tausende Kilometer hinweg spielen.
Was macht Familie aus? Sorge, Fürsorge, Liebe, Bindung, Solidarität, Sicherheit, Verantwortung, Verpflichtung sind die eine Seite, Vernachlässigung, Zwang, Missgunst, Eifersucht und Gewalt die andere Seite der Medaille. Und wer gehört überhaupt zur Familie? Die vielen Hausangestellten in den Mittelschichthaushalten der lateinamerikanischen Städte haben die berufliche Emanzipation ihrer Arbeitgeberinnen oft erst ermöglicht und sind nicht selten wesentliche emotionale Bezugspersonen, gerade für die Kinder. Und welche Rolle spielen die nicht „formalen“ oder nicht biologisch bedingten Formen der familiären Bindung? Als Stichwörter wären hier die sogenannten „Regenbogenfamilien“ oder auch Adoptionen zu nennen. Ein wesentlicher Aspekt scheint sich im Hinblick auf Familienstrukturen jedoch hartnäckig zu halten: Carework, sich also um Kinder, Kranke oder Alte in der Familie zu kümmern, für sie zu sorgen und sie zu pflegen ist nach wie vor mehrheitlich weiblich, sei es nun von direkten Familienangehörigen oder mittels weiblicher Hilfe von außen.
Inwiefern hat (Familien-)Politik Gestaltungsmöglichkeiten in Lateinamerika? Staatliche und nichtstaatliche Programme und Projekte haben sich jahrelang auf Kinder und Jugendliche konzentriert, doch für den Umgang mit der zunehmend größer werdenden Gruppe von alten Gesellschaftsmitgliedern scheint die Politik nicht vorbereitet zu sein. Diese veränderten Rahmenbedingungen und Fragestellungen wollen wir in dieser Ausgabe genauer unter die Lupe nehmen.