In den 1970er-Jahren trat Reggae seinen Siegeszug um den Globus an, gut vier Jahrzehnte später ist er nach wie vor aus dem Musik-, Konzert- und Kulturbetrieb weltweit nicht wegzudenken. Reggae startete als Schwarze Befreiungsmusik mit einer antikolonialen Agenda. Darüber hinaus hat er stets Anknüpfungspunkte für Reggae-LiebhaberInnen außerhalb Jamaicas geboten und steht für universelle Werte, da in vielen Songs Frieden, Gerechtigkeit, Toleranz, Respekt vor der Natur und Antirassismus propagiert werden. Wer hätte gedacht, dass eine Musikrichtung, die ihre Ursprünge in der Peripherie, in der urbanen Arbeiterklasse der kleinen Insel und ehemaligen Kolonie Jamaica hat, einmal einen so weltumspannenden, nachhaltigen Einfluss ausüben würde?
Die Musik hat ihre Wurzeln in Afrika, entstand in der „Neuen Welt“, breitete sich von dort auf allen Kontinenten aus und brachte überall begeisterte AnhängerInnen und lokale Reggae-InterpretInnen hervor. Reggae als diasporische, kreolische bzw. hybride Kultur ist somit Paradebeispiel für das soziologische und kulturpolitische Konzept des Black Atlantic, des „Schwarzen Atlantik“: Der Begriff bezieht sich auf ein System von historischen, kulturellen, linguistischen und politischen Interaktionen, das seinen Ursprung in dem Prozess der Versklavung der AfrikanerInnen hat. Paul Gilroy, der dieses Konzept entwickelte, weist auf die Bedeutung der Musik in diesem Kontext hin: „Die außergewöhnlichen musikalischen Errungenschaften des Black Atlantic stechen hier besonders hervor.“ Reggae steht für eine schwarze Identitätssuche und Empowerment-Bewegung zugleich. In der Musik wurde von Anfang an der weiße Blick auf Gesellschaft und Geschichtsschreibung thematisiert, somit vermittelte Reggae schon früh die postkoloniale Kritik einem breiten Publikum. Der Stolz auf die eigene Herkunft zeigt sich zum Beispiel in Bandnamen wie Third World.
Auch wenn Reggae eine weitgefächerte Palette an ideologischen Positionen zulässt und sich heutzutage viele international kommerziell erfolgreiche Reggae- oder Dancehall-Acts nicht gerade durch widerständig-kritisches Gedankengut auszeichnen (und im Gegenteil z. T. negativ durch aggressives, patriarchales und homophobes Gebaren auffallen), gibt es doch immer wieder Initiativen von lokalen Reggae-Kreisen, die sich dem widerständigen Reggae-Spirit verpflichtet fühlen und mit Hilfe von Reggae für politische Anliegen mobilisieren: So fand beispielsweise Anfang August 2013 im kolumbianischen Cali ein Reggae-Festival statt, das schon im Titel die Forderung nach „Frieden und sozialer Gerechtigkeit“ trug.
Musik, Darstellung und Symbolik des Reggae wurden von MusikerInnen der verschiedensten Länder aufgenommen und weiterentwickelt. So kehrte der Reggae erfolgreich nach Afrika zurück. Vor allem in England, aber auch in Deutschland und allen anderen europäischen Ländern entstanden einheimische Reggae-Szenen, in Zentral-, aber auch in Südamerika entwickelten sich lokale Spielarten des Reggae: Im nordbrasilianischen Bahia fiel Reggae auf fruchtbaren Boden, so dass sich das eigenständige Genre des Samba-Reggae entwickelte. Aus dem Reggae en Español in Panama entwickelte sich der heute nach wie vor virulente Reggaeton, in verschiedenen südamerikanischen Ländern, etwa in Argentinien, gibt es spätestens seit 2000 erfolgreiche Reggae-Bands, inklusive höchst überzeugter Rastafari-Anhänger.
Seit dem Jahr 2010 findet in Argentinien und Uruguay der Rototo Reggae Contest Latino statt, bei dem jedes Jahr zwei Gruppen ausgesucht werden, die auf das größte Reggae-Festival weltweit fahren dürfen, das Rototo-Sunsplash in Benicàssim in der Nähe von Valencia, um dort den lateinamerikanischen Kontinent zu repräsentieren. Dieses Jahr gewannen zwei Acts von der zu Kolumbien gehörenden Insel San Andrés das begehrte Ticket nach Spanien.
Reggae ist Teil der Jugend- und Alternativkultur, sowohl in Europa als auch in Lateinamerika: Hierzulande gibt es eine kaum zu überschauende Anzahl von größeren und kleineren Festivals, regelmäßig stattfindende Party-Reihen; in zwar geringerem Ausmaß gilt Ähnliches für die Metropolen Südamerikas. Ohne Reggae gäbe es außerdem eine Vielzahl anderer Musikstile nicht: Daraus entwickelten sich Dub, Ragga, Dancehall, Dubstep, Reggaeton. Reggae – diesem transnationalem Phänomen, einer wahrhaft musikalischen und identitätspolitischen Fundgrube widmen wir diesen Schwerpunkt. Zu dessen Gelingen hat auch die Deutsch-Jamaikanische Gesellschaft beigetragen, bei der wir uns an dieser Stelle bedanken möchten.