Weltweit gelten zwei Drittel aller Erwerbstätigen als informell beschäftigt. Doch wer oder was ist überhaupt der „informelle Sektor“? Informell arbeitet, wer ohne Sozialversicherung für sein Einkommen sorgt, wer auf der Straße oder in Transportmitteln des Nahverkehrs als sogenannte „fliegende“ HändlerInnen verkauft, wer ohne Vertrag in Haushalten ausgebeutet wird, um nur einige Beispiele zu nennen.
Die Theoretikerinnen der „Bielefelder Schule“ stellten schon vor einiger Zeit zum Thema Subsistenzproduktion und kapitalistische Akkumulation die These auf, dass der formelle auf den informellen Sektor angewiesen und diese Zweiteilung von daher unpräzise sei. Schließlich ermöglicht etwa die 15-jährige Hausangestellte mit ihrem Minimallohn, dass der oder die „kleine“ Verwaltungsangestellte im Betrieb schlechter bezahlt werden kann, oder die Garküchenhilfe am Straßenrand verkauft günstiges Essen an die Arbeiter in der Mittagspause. Somit erfüllt der informelle Sektor die Funktion, die Lohnansprüche der formell Arbeitenden so gering wie möglich zu halten.
Durch die gegenwärtige Wirtschaftskrise nehmen in Europa, besonders in den Ländern, die am stärksten von Finanzkrise und rasant wachsender Arbeitslosigkeit betroffen sind, Arbeitsverhältnisse zu, die unsicher, befristet, prekär, schlecht entlohnt sind. Prekarisierung und Informalisierung waren lange Zeit Phänomene, die charakteristisch für die sogenannten Entwicklungsländer waren. Seit den 1970er-Jahren galt Lateinamerika als die Weltgegend, in der am hemmungslosesten neoliberale Deregulierungen durchgesetzt wurden, in dessen Folge unter anderem Hunderttausende formell Beschäftigte ihre Arbeit verloren und der informelle Sektor stark wuchs. Doch ausgerechnet jetzt, wo in Europa krisenbedingt der informelle Sektor an Bedeutung gewinnt und ein starker Prekarisierungstrend erkennbar ist, scheint es in einigen Ländern Lateinamerikas gegenläufige Entwicklungen zu geben.
Vor dem Hintergrund eines Wirtschaftswachstums, das auf einer gewachsenen Nachfrage und hohen Weltmarktpreisen für Agrarexportgüter und andere Naturressourcen beruht, konnten sich einige lateinamerikanische Länder eine Arbeits- und Sozialpolitik erlauben, die unter anderem eine (Re-)Formalisierung von Arbeitsverhältnissen befördert, da die Ausweitung von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung als zentrales Politikziel gilt. Tatsächlich nahm etwa in Brasilien in den letzten zehn Jahren die formelle Beschäftigung im privaten Sektor um 25 Prozent zu. Insgesamt stiegen in Lateinamerika in der letzten Dekade die Reallöhne um durchschnittlich 14 Prozent, und auch die in allen Ländern beträchtlich erhöhten Mindestlöhne tun ihr Übrigens. Wenn sich die makroökonomische Situation insgesamt bessert, müssen weniger Leute als etwa noch vor zehn Jahren jeden schlecht bezahlten Mistjob annehmen. In diesem Zusammenhang spielt auch die gestiegene Verhandlungsmacht der Gewerkschaften eine wichtige Rolle, zum Beispiel in Argentinien, Brasilien und vor allem in Uruguay.
Bei den Mitte-Links-Regierungen Lateinamerikas haben Programme zur sozialen Grundversorgung mit ihren Einkommenstransfers dazu beigetragen, Armut abzubauen (etwa das Programm bolsa familia in Brasilien oder hambre cero in Nicaragua); teilweise gehen diese Instrumente mit Maßnahmen zur Integration in den Arbeitsmarkt einher. Kritische Stimmen warnen jedoch, dass solche Programme eben gerade keine Wege aus dem informellen Sektor bieten, da die so Begünstigten als Selbständige agieren und Sozialversicherungsleistungen nach wie vor an formelle Arbeitsplätze geknüpft bleiben.
Die Maßnahmen zur (Re-)Regulierung des informellen Sektors stoßen also an Grenzen. Mitgedacht werden muss auf jeden Fall, dass die Ausgangsbasis eine extrem ungleiche Arbeitsmarktstruktur in Lateinamerika gewesen ist, weshalb trotz der neuen Politiken laut der jüngsten Zahlen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) nach wie vor fast die Hälfte aller lateinamerikanischen Erwerbsfähigen im informellen Sektor beschäftigt sind. Aber ist der Zug nicht schon längst abgefahren? Kann es überhaupt ein „Zurück“ zu formalisierten Arbeitsverhältnissen geben, die sowieso nur für eine äußerst kleine, männliche Kerngruppe bestanden, in der historischen Nachkriegsphase, die mittlerweile längst abgeschlossen ist? Bieten informelle Beschäftigungsverhältnisse nicht vielleicht auch Vorteile, was beispielsweise Zeiteinteilung und Selbstorganisation betrifft? Und für die indigenen HändlerInnen in Bolivien, die lange Zeit marginalisiert waren, stellen informelle Handelsbeziehungen mitnichten einen Nachteil dar, vielmehr bilden sie zusammen mit anderen Faktoren den Kontext für ihren wirtschaftlichen Erfolg der letzten Jahre. Angesichts des niedrigen Organisationsgrades im informellen Sektor stellt sich dennoch die Frage, ob nicht formelle, sozialversicherte Arbeitsplätze bessere Ausgangsbedingungen bieten für den Kampf um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen.