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Cali liegt zwischen zwei Bergketten. Die im Nebel versteckten Gipfel der Farallones in der Westkordillere der Anden sind weithin sichtbar, eine Landstraße führt über diese Bergkette direkt an die Küste nach Buenaventura, dem größten Exporthafen Kolumbiens. Fern im Osten sieht man bei gutem Wetter die Ostkordillere. Im Norden liegen in der Ebene der Flughafen und die Industrieregion Yumbo, im Süden und Osten grenzt Cali direkt an die Zuckerrohrplantagen, die es einst reich gemacht haben. Mitten hindurch läuft wie ein Pfeil die Panamericana.Cali ist gleichzeitig Hauptstadt des Departements Valle del Cauca, die drittgrößte Stadt Kolumbiens und – eigentlich keine Stadt.
Cali ist ein Dorf, wenn auch mit knapp 3,5 Millionen EinwohnerInnen ein etwas größeres. Cali lässt trotz seiner Ausdehnung ein urbanes Flair vermissen. Der Architekt und Stadtplaner David Millán Orozco bezeichnet Cali aufgrund der fehlenden Stadtplanung, der gescheiterten Modernisierung sowie der sozialen Spaltung sogar als „Nicht-Stadt“. Im Gegensatz zu den Metropolen Bogotá und Medellín ist sie nie als Stadt geplant gewesen. Die Ernennung zur Provinzhauptstadt, der Zuckerrohrboom, das Cali-Kartell, der natürliche Reichtum des Cauca-Tals und die Nähe zum Pazifik bescherten ihr Investitionen aus dem In- und Ausland und ließen sie expandieren. Oder besser: explodieren. Die Drogengelder wurden über den Bausektor gewaschen, allerdings ohne jegliches urbanes Konzept. Wer Geld hatte, kaufte Land und baute. Wer kein Geld hatte, baute auch. Die Folge: ein architektonisches Konglomerat aus informellen und prekären Wohnquartieren neben Shopping-Malls und mehrgeschossigen Luxuswohnungen im Hochsicherheitstrakt. Nirgendwo in Kolumbien ist die soziale Ungleichheit so groß und liegt so nah beieinander. Das hat Folgen fürs Zusammenleben. Cali gilt auch nach dem Zusammenbruch des Drogenkartells als eine der gefährlichsten Städte Lateinamerikas. Die Mittel- und Oberschichten separieren sich, bestätigt durch die täglichen Schauermeldungen in der Presse und den allgegenwärtigen Angstdiskurs. Vor den Ursachen von Armut, Gewalt und Drogenkonsum werden die Augen verschlossen. Die Lebensrealität der unterschiedlichen sozialen Schichten liegt so weit auseinander, dass sie sich in Parallelwelten bewegen.
Cali besteht zu einem großen Teil aus invasiones, wilden, zunächst illegalen Niederlassungen von Flüchtlingen, die inzwischen teilweise als Stadtteile anerkannt worden sind. Viele Vertriebene kommen aus ländlichen Regionen und der Pazifikküste in die Stadt, auf der Suche nach Sicherheit und dem Traum von Fortschritt und Wohlstand. Sie finden sich oft in illegalen Siedlungen wieder, ohne Arbeit und Perspektive. Sie bauen aus Schrott provisorische Behausungen, die meist jahrzehntelang bestehen bleiben. Cali ist ein Spiegel des bereits 60 Jahre dauernden bewaffneten Konflikts in Kolumbien mit seinen humanen Katastrophen.
Eine Stärke der Stadt ist das unglaubliche Potenzial, unterschiedliche kulturelle Einflüsse zu beherbergen. Der Soziologe Luis Carlos Castillo schreibt von Cali als multiethnischer und multikultureller Stadt. Nicht zu übersehen ist der starke Einfluss der Pazifik- und Afrokultur. Fast 30 Prozent ihrer EinwohnerInnen haben afrikanische Wurzeln. Auch die Nähe zu indigenen Kulturen im Süden des Landes und der Kontakt nach Ecuador sind im Alltag spürbar. Und mittlerweile ist auch der Einfluss internationaler Einwanderer kaum mehr zu übersehen.
In europäischen Medien wird Cali als neuer Geheimtipp verkauft. Die städtische Tourismusabteilung wirbt mit Salsa, Sport und Weltmeisterschaften. Die Salsa- und Bahnradweltmeisterschaft, internationale Filmfestivals, das Ballettfestival, die World Games der nicht-olympischen Sportarten.
Aber abseits des offiziellen Standort- und Kulturmarketings bewegt sich Cali in einer kulturellen Vielfalt: Viele aktive Gruppen eignen sich ihre Stadt (wieder) an. Stadtteilfeste wie Calle del Arte oder Musikveranstaltungen als Reclaim the streets-Events wie Punk- und Hip-Hop-Konzerte finden fast wöchentlich statt. Cali lebt vor allem in seinen Vierteln. Das Zentrum ist eine tote Gegend, besonders nachts oder an Sonntagen sogar berüchtigt und gefährlich. Man treibt sich lieber in der Nachbarschaft herum, geht im Laden an der Ecke ein Bier trinken und lässt sich auf ein Tänzchen oder ein Schwätzchen ein. Vielleicht liegt es auch am Klima, dass Cali von seinen Bewohnerinnen liebevoll als Sucursal del cielo (Niederlassung des Himmels auf Erden) bezeichnet wird. Die Partymetropole im feuchttropischen Klima ist gastfreundlich und bunt, trotz ihrer Schattenseiten wie Armut, Marginalisierung und sozialem Ausschluss, die den caleñischen Traum für viele zur Hölle werden lassen.
Wir haben in diese Ausgabe einen Stadtplan eingefügt, auf dem wir die in den Texten erwähnten Orte markiert haben. Damit wollen wir den räumlichen Alltag unserer AutorInnen und InterviewpartnerInnen visualisieren. Wir bedanken uns bei allen Beteiligten an diesem Heft für ihren Einsatz und ihre Hilfsbereitschaft und ganz besonders bei Ani Dießelmann und Andreas Hetzer, die den Schwerpunkt maßgeblich zusammengestellt haben