In den letzten beiden Jahrzehnten sind bei Demonstrationen und Protesten sozialer Bewegungen in Lateinamerika immer häufiger Kunstaktionen zu sehen. Zwar haben Elemente wie Straßentheater, Wandmalerei oder politische Lieder in der lateinamerikanischen Protestkultur schon immer eine wichtige Rolle gespielt, aber heute scheint die aktive Beteiligung, insbesondere bildender KünstlerInnen, ein regelrechtes Wesensmerkmal vor allem jugendlicher Bewegungen zu sein.
Bei den klassischen Verbindungen von Kunst und Politik in Lateinamerika, etwa in den großen Traditionen der Wandmalerei der dreißiger und vierziger Jahre in Mexiko und später in Bolivien oder des neuen politischen Liedes der sechziger und siebziger Jahre, haben engagierte MalerInnen und MusikerInnen die Themen der politischen Bewegungen in ihren Arbeiten aufgegriffen. Die KünstlerInnen verstanden sich als Teil einer Bewegung für gesellschaftlichen Fortschritt. Viele waren Mitglieder linker Organisationen und wurden durch deren Sichtweisen und Debatten inspiriert. Dabei waren sie in den seltensten Fällen „Parteikünstler“, sondern haben sich eigenständige Blickwinkel und Denkweisen bewahrt. Es war aber immer so, dass die politischen Themen die künstlerische Arbeit beeinflusst haben und nicht umgekehrt.
Dies gilt so nicht mehr für den heutigen „künstlerischen Aktivismus“, vor allem wenn die politischen KünstlerInnen in Gruppen und Kollektiven zusammenarbeiten. Diese Kunstschaffenden agieren im Rahmen urbaner Protestformen relativ autonom. Natürlich stehen sie im engen Kontakt mit anderen AkteurInnen sozialer Bewegungen, etwa Menschenrechtsgruppen und Angehörigenorganisationen, setzen sich aber in ihren Performances, Graffiti, Wandbildern, Stencils, Plakaten, Gedichten, Installationen auf ihre jeweils ganz eigene Weise mit politischen Themen und Inhalten auseinander.
Die argentinische Kunsthistorikerin und Sozialwissenschaftlerin Ana Longoni, die sich intensiv mit den neuen Formen kreativer Intervention in politischen Protestbewegungen beschäftigt, vertritt die These, dass sich die stärksten Auswirkungen der – mitunter konfliktiven, aber auf jeden Fall anregenden – Annäherung von kreativer und politischer Aktion weniger innerhalb des künstlerischen Umfeldes als in neuen Methoden der Politikpraxis zeigen würden.
Das wäre in der Tat eine neue Qualität. Die politische Praxis der Linken war sehr lange – und ist es vielerorts bis heute – durch die Wiederholung politischer Gewissheiten geprägt, während die künstlerische Avantgarde alte Denkmuster immer wieder in Frage stellt und dekonstruiert.
Wenn sich politische Bewegungen – in Lateinamerika wie in anderen Teilen der Welt – dahingehend weiterentwickeln, dass sie eingefahrene Konzepte und Ansätze immer wieder hinterfragen und kritisch prüfen, woran man unbedingt festhalten muss und was in der bisherigen Form nicht mehr aufrechterhalten werden kann, wäre das ein großer Forschritt und eine adäquate Antwort auf die immer mehr um sich greifende politische Beliebigkeit.
Der Fokus unserer Auseinandersetzung mit dem Spannungsverhältnis von Kunst und politischer Intervention liegt auf der visuellen Kunst, von Malerei bis zu Kino und Theater. Für uns war es eine spannende Entdeckungsreise, uns mit den neuen (und auch einigen alten) Formen des „Künstlerischen Aktivismus“ auseinanderzusetzen. Wir hoffen, dass es unseren LeserInnen ähnlich geht.
P.S. Mit dieser Ausgabe verabschieden wir uns in die jährliche Winterpause. Die nächste ila erscheint Mitte Februar. Wie schon im November liegt auch der Dezember-ila unser jährlicher Brief an die LeserInnen bei. Um weitermachen zu können, brauchen wir Unterstützung in Form neuer Abos und Spenden! Unseren LeserInnen wünschen wir einen angenehmen und entspannten Jahreswechsel.