„Freiheit stirbt mit Sicherheit“ behauptet ein linker Slogan. Klar, Sicherheitsmaßnahmen schränken Persönlichkeitsrechte ein. Aber braucht es nicht auch ein gewisses Maß an Sicherheit, um einigermaßen frei sein zu können? Wie sicher ist unser Leben, sind unsere Gesellschaften? Das Recht auf körperliche Unversehrtheit, wie es in Verfassungen und internationalen Verträgen garantiert wird, ist nicht überall sicher. Vor dem Hintergrund von Kriegen und Terroranschlägen breitet sich ein verstärktes Unbehagen aus. In vielen lateinamerikanischen Großstädten ist die Sicherheitslage schon länger Thema, die Angstszenarien setzen sich aus Raubüberfällen, Vergewaltigungen und Schießereien zusammen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass ein Großteil der Angreifer Mitglieder von Jugendbanden oder generell Jugendliche sind. Gleichzeitig ist diese Bevölkerungsgruppe selbst am meisten von Gewalt betroffen: Weltweit sind 75 Prozent der ermordeten Personen zwischen zehn und 29 Jahre alt. Auch die meisten Opfer von Lynchjustiz sind Jugendliche – meist auch unschuldige! – wie Zahlen aus Bolivien belegen.
Rechte Diskurse machen für die steigende Unsicherheit die Armen und Marginalisierten oder auch die Eingewanderten verantwortlich und plädieren für Law and Order. Ganz en vogue sind in Lateinamerika die Kampagnen zur Herabsetzung des Alters für Strafmündigkeit. In Uruguay sind die rechten Parteien letztes Jahr mit dieser Initiative gescheitert, nicht zuletzt dank einer beeindruckenden Gegenkampagne von vor allem jungen Leuten. In Brasilien hingegen scheint sich die rechte Parlamentsmehrheit durchsetzen zu können. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass in vielen lateinamerikanischen Ländern das Mindestalter, um zu arbeiten, höher ist als das Mindestalter, um Freiheitsstrafen aufgebrummt zu bekommen.
Die Gründe für eine Politik der „harten Hand“ sind offensichtlich: Hauptsache, man unternimmt etwas gegen die unhaltbaren Zustände, dann sind einem Medien und Wahlvolk wohl gesonnen. Ein Teufelskreis entsteht: Die so verfolgten Jugendlichen, ob sie jetzt tatsächlich etwas verbrochen haben oder nicht und nur aufgrund ihres Outfits und anderer äußerlicher Codes von der Polizei verprügelt oder direkt eingesackt werden, werden weiter in Gewalt und Kriminalität getrieben. Die Risse im gesellschaftlichen Zusammenhalt werden größer. Ungleiche Gesellschaften sorgen für Unsicherheit, ebenso die vorherrschende Straflosigkeit, wenn also Verbrechen, etwa der Organisierten Kriminalität, aber auch von staatlichen Akteuren, nicht geahndet werden.
Subjektives Sicherheitsempfinden und Wirklichkeit klaffen oft auseinander. Monokausale Begründungen greifen nicht, denn wie kann beispielsweise erklärt werden, warum in venezolanischen Großstädten die Sicherheitslage so katastrophal ist, obwohl die bolivarianischen Regierungen mit ihren Sozialprogrammen eine teilweise erfolgreiche Umverteilung in Gang gesetzt haben? Hier kommt das „lateinamerikanische Paradox“ zum Tragen, wie es die UN-Entwicklungsbehörde UNDP nennt: Trotz Wirtschaftswachstum – auf dessen Grundlage die Umverteilung möglich ist – hätten sowohl die objektive als auch die subjektiv wahrgenommene Unsicherheit zugenommen. Beim subjektiven Sicherheitsgefühl spielen auf jeden Fall Kampagnen von rechten Oppositionsparteien und Medien eine wichtige Rolle, die mit dem Thema „Unsicherheit“ den progressiven Regierungen Lateinamerikas Stöcke zwischen die Beine werfen. Mit Erfolg, denn in keinem anderen Politikfeld sind die progressiven Regierungen so leicht zu verunsichern.
Sicherheit – für wen? Für Investoren ist sie meist gegeben, dank Freihandelsabkommen und weiterer wirtschaftsliberaler Maßnahmen. Diese Sicherheit hat Priorität. Und die soziale Sicherheit? Bestimmte Ängste in der Bevölkerung sind ja gerade ökonomischer Natur und einem steigenden Druck in der neoliberalen Arbeitswelt geschuldet. Das subjektive Sicherheitsempfinden hat auch mit wirtschaftlicher (Un-)Sicherheit zu tun sowie mit den Rechten, die den BürgerInnen gewährt werden – oder eben nicht. Wenn der Staat nicht mehr für meine Sicherheit sorgen kann oder will, ziehe ich mich, je nach sozialem Status, in meine bewachte Wohnanlage zurück, sperre meine Kinder nachmittags zu Hause in der Armensiedlung ein, gehe abends nicht mehr in die Innenstadt oder plädiere für mehr Polizei auf den Straßen. Wenn man einen Hammer hat, erscheint einem eben jedes Problem als Nagel.
Aber es gibt auch Alternativen, etwa das Konzept einer „Sicherheit von unten“, wie es in Medellín entwickelt wurde. Ein anderer Ansatz ist das, was Stadtplaner „urbane Kompetenz“ im Umgang mit „städtischen Irritationen und Angsträumen“ nennen. Diese Kompetenz ist ein gesellschaftlicher Lernprozess und bedeutet, Verschiedenartigkeit auszuhalten, bei gegenläufigen Interessen Konflikte auszuhandeln, statt auf Segregation, Abschottung und verstärkte Sicherheitskräfte zu setzen. In unserem aktuellen Schwerpunkt wollen wir untersuchen, wie die (fehlende) Sicherheit in verschiedenen Gesellschaften begründet wird und welche Maßnahmen für ihre (Wieder-)Herstellung ergriffen werden.