Schulden und Migration – die Themen im Sommer 2015. Migration: Da zeigt sich die Kontinuität des faschistischen Mobs in Heidenau und anderswo. Da springen aber auch viele freiwillige HelferInnen in die Bresche und dringt der Begriff „Einwanderungsland“ langsam in breitere Kreise vor. Gleichzeitig ist die Rede von neuen Kriegsschiffen und Drohnen im Mittelmeer „zur Bekämpfung der Schleuser“. Schulden: Diesen Sommer wird deutlich, wie ein Schuldenregime die Demokratie offen untergräbt, ein Land ins Elend treibt, mit aussichtslosen Kreditpaketen Ungleichheit und Abhängigkeit zementiert und en passant eine unliebsame Linksregierung entsorgt, die sich erdreistet hatte, den europäischen Status Quo anzukratzen. 

Wie kann das mit Haiti zusammen gedacht werden, unserem aktuellen Schwerpunktthema? Haiti, das erste Land der Welt, das die Sklaverei abschaffte, wurde ebenso abgestraft. Immer wieder, mit Waffengewalt und mit den Waffen des Finanzsystems. Und ein Migrationsdrama erleidet Haiti aktuell ebenfalls.

Für seine Unabhängigkeit im Jahr 1804 musste Haiti 150 Millionen Francs Reparationszahlungen an Frankreich leisten, als Bedingung der ehemaligen Kolonialmacht für die Wiederaufnahme diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen. Erst 1947 sollten diese Schulden abgegolten sein. Auch bei der US-amerikanischen Besatzung Haitis, die vor 100 Jahren am 28. Juli 1915 begann, spielten Schulden eine Rolle. Die sogenannte „Dollar-Diplomatie“ unter US-Präsident William Howard Taft (1909-1913) hatte eine großzügige Kreditvergabe in der Region gefördert, wohl auch, um aus Haiti die imperialistische Konkurrenz des Deutschen Reichs zu verdrängen, das in der Karibik mit Handelsniederlassungen und Kanonenbooten präsent war. Doch dann bekamen US-amerikanische Banker kalte Füße, fürchteten um die Rückzahlung ihrer Kredite. Eine militärische Expedition holte sich das Geld – eine halbe Million US-Dollar – kurzerhand aus dem Tresor der haitianischen Nationalbank zurück. Das war im Dezember 1914.

Die US-Besatzung Haitis dauerte bis 1934 an und hinterließ ein anderes Land: Die Plantagenökonomie wurde restauriert, eine neue Verfassung geschrieben, Landbesitz für Ausländer wieder zugelassen, Infrastruktur und Institutionen zentralisiert. Gleichzeitig wurde der Widerstand aus der Bevölkerung brutal niedergeschlagen, renitente HaitianerInnen mussten Zwangsarbeit leisten. Viele aktuelle strukturelle Probleme des Landes sowie die andauernde Abhängigkeit haben in dieser Zeit ihren Ursprung.

Mit der US-Besatzung begann auch eine Auswanderung größeren Maßstabs. Heutzutage lebt ein Drittel der haitianischen Bevölkerung außerhalb des Landes – die größten Communities gibt es in den USA, in Kanada, Frankreich und der Dominikanischen Republik. Nach dem Erdbeben vom Januar 2010 gingen HaitianerInnen auch verstärkt nach Brasilien. Ende 2014 verzeichnete das brasilianische Justizministerium 30 000 haitianische Einwanderer (für den Zeitraum 2010 bis 2014), vor allem in den Städten Curitiba, São Paulo und Cascavel. Weltweit ist zu beobachten, dass MigrantInnen häufig dort Zuflucht suchen, wo das Übel (für ihre Länder) herkommt. Von daher zeigt der Slogan „Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört“ der Jenaer Flüchtlingsselbstorganisation The Voice erneut, wie aktuell er ist.

Eines dieser Übel ist in Haiti die „UN-Stabilisierungsmission für Haiti“ – MINUSTAH, die seit Juni 2004 im Land ist – unter brasilianischem Kommando. Von den gut 13 000 stationierten Einsatzkräften stammt etwa ein Fünftel aus Brasilien. Ursprünglich startete diese Mission, „weil von Haiti eine Gefahr für die Stabilität und Sicherheit der Region ausgeht“. Dabei geht eine ganze Menge Gefahr von der MINUSTAH selbst aus – auf ihr Konto gehen der Ausbruch einer Cholera-Epidemie, Vergewaltigungsfälle, Kinderprostitution sowie brutale Einsätze in Armenvierteln. Das MINUSTAH-Mandat ist Jahr für Jahr verlängert worden, obwohl Haiti eine viel geringere Rate gewalttätiger Verbrechen hat (8,2 auf 1 000 000) als etwa Jamaica (54,9) oder Brasilien selbst (26,4).
Und in Haitis Nachbarland, der Dominikanischen Republik, erkennen die Regierenden den DominikanerInnen haitianischen Ursprungs einfach mal die Staatsbürgerschaft ab – der Gipfel an menschenverachtendem und unfähigem Umgang mit MigrantInnen, der in hiesigen Medien nur randständige Beachtung findet.

Eine gute Nachricht gibt es dann aber doch. Der Film „Mord in Pacot“ des haitianischen Regisseurs Raoul Peck, der diesen Monat in die deutschen Kinos kommt, ist von der Jury der Evangelischen Filmarbeit als „Film des Monats September“ ausgezeichnet worden (www.epd-film.de/filme/mord-pacot). Der Spielfilm über die sozialen und moralischen Folgen der Erdbebenkatastrophe ist packendes, großes Kino. Und er bietet, extrem verdichtet, eine Menge Erklärungen über Haiti, über seine (historischen) Abhängigkeiten und herrschenden Machtbeziehungen.

Vgl. auch den Schwerpunkt „Haiti“ in der ila 341 (Dezember 2010)