Das Jahr 2016 begann denkbar schlecht. Die sexistischen Vorfälle der Silvesternacht in Köln wurden, wie zu befürchten, gnadenlos instrumentalisiert. Mit dem Ergebnis, dass Verschärfungen im Asylrecht, vermehrtes Racial Profiling, polizeiliche Aufrüstung flugs durchgewunken werden. Die „Willkommenskultur“ steht vor einer Bewährungsprobe, der ethnisierende Blick (vor allem auf junge Männer) ist aktiviert. Ob wir damit beim Kampf gegen den allgegenwärtigen Sexismus und die altbekannte Gewalt gegenüber Frauen einen Schritt weiter gekommen sind, ist fraglich.
In der schweizerischen WOZ legt Bettina Dyttrich Mitte Januar dar, wie weit verbreitet aggressive, hypersexualisierte Anmache in der Zürcher Clubszene ist. Eine Frau, die seit den 90er-Jahren in der Szene unterwegs ist, stellt darüber hinaus eine Vereinheitlichung der Geschlechterrollen fest: „In den Neunzigern gab es vielfältigere Frauenidentitäten.“ Heute sei das Frauenbild stereotyp, eine Schablone. „Die Stimmung ist machoid. Es gibt eine riesige Lücke zwischen menschlichem und sexuellem Kontakt. Hauptziel ist es, jemanden abzuschleppen.“ Auch Auszugehen ist heute Teil der Leistungsgesellschaft, dabei wollen die meisten Frauen sexy und schön sein.
Aber was ist schön? Das Konzept von der Schönheit ist von jeher kulturell geprägt und stellt sich je nach Epoche oder Gesellschaft unterschiedlich dar. In der Kunst wird dem schönen (meist) weiblichen Körper gehuldigt. Das Streben der Menschheit nach Schönheit ist uralt. Dass das sogenannte „schöne“ Geschlecht einen größeren Druck zur Perfektionierung des eigenen Äußeren spürt, hat sich leider auch nicht durch die Frauenbewegungen wesentlich geändert. Obwohl die Vorstellungen von dem erstrebenswerten Ideal variieren, hat sich in der Neuzeit ein westliches, weißes Schönheitsideal durchgesetzt. Das gilt auch für das ethnisch vielfältige Lateinamerika. Die Latte liegt für die meisten unerreichbar hoch: Mindestgröße 1,70 Meter, blonde, glatte, lange Haare, schlanke Gestalt mit leichten Kurven und definierten Muskeln, ein sorgfältig enthaarter hellhäutiger Körper, reine, faltenfreie Haut, weiße, gerade Zähne.
Das Perfide unserer Zeit liegt darin, dass dank moderner Operations- und anderer Techniken die körperliche Grundmasse erheblich verändert werden kann, sodass heutzutage der Hinweis, dass es die Natur mit dem oder der nicht besonders gut gemeint hat, nicht mehr gilt: Zu viel Speck auf den Hüften? Ab ins Fitnessstudio! Wenn das nicht hinhaut, ab zur Liposuktion (dem Fettabsaugen)! Zu viele Falten um Augen oder Mund? Abhilfe könnte eine Session Botox to go verschaffen. Kleiner, schlaffer Busen, Flachpopo? Schnell mal mit Silikon aufpeppen. Zu krass, zu invasiv, vor allem: zu teuer? OK, aber wer kümmert sich nicht ein bisschen um die körperliche Fitness, welche Frau hat Frieden mit ihrer Körperbehaarung oder ihrem Damenbart geschlossen, gibt nicht zu viel Geld für Antifalten-Cremes aus, versucht nicht, die Linie zu wahren, oder hat noch nie mit mehr oder weniger fragwürdigen Mittelchen (Nahrungsergänzungsmittel, Superfood-Smoothies) versucht, dem eigenen Stoffwechsel Dampf zu machen?
Der Druck steigt. Ein attraktives äußeres Erscheinungsbild ist sowohl auf dem Liebesmarkt (in der Soziologie wird unverblümt von erotischem Kapital gesprochen), als auch auf dem Arbeitsmarkt förderlich. Vor dem Hintergrund ausgeprägter sozialer Ungleichheit in den lateinamerikanischen Gesellschaften bietet ein gutes Aussehen Frauen eine Möglichkeit zum sozialen Aufstieg beziehungsweise überhaupt Chancen auf einen Job.
Der Druck zur Selbstoptimierung bezieht sich auf immer breitere Bevölkerungskreise: Auch Männer spüren ihn und immer jüngere Frauen. Die Mission Schönheit beginnt im Mädchenalter. Eine Schönheits-OP zum 15. oder ein Spa-Besuch mit den Kindergartenfreundinnen zum 6. Geburtstag? Gibt es alles, etwa in Mexiko oder Brasilien. Der Trend zur Hypersexualisierung der Schönheitsideale verschont auch nicht die jüngste Zielgruppe, wie die Psychologin Tomi Ann-Roberts darstellt: „Wenn Mädchen einmal klar haben, welches Geschlecht sie haben, sind sie motiviert, sich in die besten Exemplare davon zu verwandeln. Wenn die Beispiele für Weiblichkeit um sie herum eine aufgebrezelte, pornografische Geschlechterrolle widerspiegeln, werden sie dieser nachzueifern versuchen.“
Keine schönen Aussichten. Höchste Zeit also für Gegenpositionen, von denen wir einigen in dieser ila Raum geben.