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Die Mapuche, die im Mittelpunkt dieser ila stehen, leben überwiegend im Süden von Chile und in Santiago, ein kleinerer Teil im Süden von Argentinien. Doch schon diese scheinbar neutrale Aussage ist vor dem Hintergrund der kolonialen Geschichte der Mapuche problematisch. Denn für viele Mapuche liegt ihr Territorium innerhalb der Grenzen des heutigen chilenischen Staates, sie haben aber nicht alle das Gefühl, in Chile als ChilenInnen zu leben, sondern viele fühlen sich vom chilenischen Staat bis heute kolonialisiert.
Anders als die meisten ursprünglichen Nationen Amerikas wurden die Mapuche nie von einer europäischen Kolonialmacht unterworfen. Die spanische Krone hat das zwar in Chile immer wieder versucht, ist aber stets am entschlossenen Widerstand der Heere der Mapuche gescheitert. So erkannten die Spanier in verschiedenen Verträgen die Eigenständigkeit des Mapuche-Territoriums an, was sie aber nicht daran hinderte, immer mal wieder einen erfolglosen Versuch zu starten, die Mapuche zu kolonialisieren.

Die 1818 endgültig unabhängig gewordene Republik Chile, die zunächst nur die Gebiete nördlich und südlich der Siedlungsgebiete der Mapuche kontrollierte, strebte von Anfang an danach, das Land der Mapuche zu okkupieren und ihnen ihre Eigenständigkeit zu nehmen. In einem über 70 Jahre dauernden Krieg gelang es den chilenischen Armeen schließlich Ende des 19. Jahrhunderts, die Mapuche zu unterwerfen. Nachdem der chilenische Staat die militärische Kontrolle über ihr Territorium übernommen hatte, raubte man den Mapuche große Teile ihres Landes und übergab es an europäische SiedlerInnen, darunter viele Deutsche, um es zu kolonisieren. Die Mapuche wurden formal zu ChilenInnen gemacht, wurden aber nie wirklich von der chilenischen Gesellschaft akzeptiert, sondern blieben bestenfalls BürgerInnen zweiter Klasse.

Entsprechend sehen viele Mapuche ihre Geschichte innerhalb der Republik Chile als Kolonialgeschichte. So spielt in den Zielen der politischen Mapuche-Bewegung die Frage der Entkolonialisierung eine zentrale Rolle. Ein kleiner Teil dieser Bewegung strebt sogar eine Unabhängigkeit von Chile an, der weitaus größere Teil kämpft für eine weitgehende Autonomie innerhalb des chilenischen Staates.

Zwar spielt das Thema der Autonomie in vielen indigenen Bewegungen Lateinamerika eine Rolle. Doch gerade die indigenen Organisationen, die in den letzten beiden Jahrzehnten am erfolgreichsten agierten und sich einer großen internationalen Unterstützung erfreuten, nämlich die ZapatistInnen in Mexiko und die indigene Bewegung in Bolivien, die mit der aus ihr hervorgegangenen Partei  „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) seit mehr als zehn Jahren die Regierung führt, machten in zentralen Bereichen eine andere Politik. Zwar fordern (und praktizieren sie auch) die Autonomie der indigenen Gemeinden, aber vor allem stehen EZLN und MAS für eine gleichberechtigte Integration der Indigenen in die mexikanische bzw. bolivianische Gesellschaft. Die Angehörigen dieser Nationen sollen nicht länger BürgerInnen zweiter Klasse sein, sondern die gleichen politischen, ökonomischen und kulturellen Rechte haben wie andere BolivianerInnen und MexikanerInnen. Das bedeutet etwa, dass nicht nur indigene Kinder in der Schule zweisprachig unterrichtet werden, sondern auch, dass in Bolivien Nicht-Indigene, die einen Job im öffentlichen Dienst haben möchten, neben Spanisch eine indigene Sprache sprechen müssen.

Einem solchen Verständnis von Integration stehen die meisten RepräsentantInnen der politischen Mapuche-Bewegung – zumindest in Chile – eher kritisch gegenüber, auch wenn viele Mapuche heutzutage in Santiago und anderen Großstädten leben. Für sie stehen derzeit die Autonomie der Mapuche auf ihrem Territorium und die Rückgabe bzw. Entschädigung für ihr geraubtes Land sowie Bildungsfragen ganz oben auf ihrer Agenda. Sie wehren sich gegen infrastrukturelle Großprojekte sowie industrielle Meeresbewirtschaftung und agroindustrielle Landwirtschaft auf dem von ihnen beanspruchten Territorium. Dabei kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht, die Mapuche-AktivistInnen rigide verfolgt. Nur gegen Mapuche wird bis heute noch das Antiterrorgesetz der Pinochet-Diktatur angewendet. Anstatt sich dem kolonialen Erbe Chiles zu stellen, setzen die heute regierenden Sozial- und ChristdemokratInnen auf die Instrumente des verhassten Diktators, um gegen den Widerstand der Mapuche vorzugehen.

Die ila-Redaktion bedankt sich bei dieser Ausgabe ganz besonders bei Alina Rodenkirchen vom Mapuche-Netzwerk. Ohne ihr Engagement und ihre zahlreichen Hinweise wäre dieser Schwerpunkt so nicht zustande gekommen!