Der Begriff Gentrifizierung ist heute in aller Munde. Das „Deutsche Institut für Urbanistik“ verrät uns, dass der Begriff in den 60er-Jahren von der britischen Soziologin Ruth Glass geprägt wurde: „Abgeleitet vom englischen Ausdruck „gentry“ (= niederer Adel) wird er seither zur Charakterisierung von Veränderungsprozessen in Stadtvierteln verwendet und beschreibt den Wechsel von einer statusniedrigeren zu einer statushöheren (finanzkräftigeren) Bewohnerschaft, der oft mit einer baulichen Aufwertung, Veränderungen der Eigentümerstruktur und steigenden Mietpreisen einhergeht.“
In Europa und Nordamerika läuft dieser Prozess oft nach einem ähnlichen Muster ab. Stadtviertel mit alter Bausubstanz und ärmerer Bevölkerung werden – wegen der günstigen Mieten und wegen oft großer, früher von Handwerksbetrieben genutzter Nebengebäude – für junge, aktive, aber eher einkommensschwache Gruppen wie Studierende, Künstler*innen, freiberufliche Medienarbeiter*innen u.ä. attraktiv. Sie initiieren Wohnprojekte, Ateliers, Kneipen, Ausstellungs- und Veranstaltungsorte. Damit gelten einst abgehängte Stadtteile plötzlich als angesagt. Nun interessieren sich auch Immobilienunternehmen und jüngere, gut verdienende städtische Bevölkerungsgruppen für diese Viertel.
Damit beginnt ein Verdrängungsprozess. Immobiliengruppen kaufen Häuser und bringen die bisherigen Mieter*innen mit Druck oder auch Abfindungen dazu, auszuziehen. Nun können die Häuser luxussaniert und an finanzkräftige Interessent*innen vermietet oder verkauft werden. Diejenigen, die den ganzen Prozess in Gang gesetzt haben, müssen schließlich auch weichen. Allerdings ist dieser Verlauf der Gentrifizierungsprozesse nicht zwangsläufig. Oft gelingt es, Widerstand gegen die Vertreibung zu organisieren und die Verdrängungsprozesse zu verlangsamen oder aufzuhalten.
Auch in Lateinamerika ist die Gentrifizierung ein Thema. Es gibt aber erhebliche Unterschiede zu Europa. Die Objekte der Begierde sind in Lateinamerika die kolonialen und postkolonialen Altstädte. Hier hatten begüterte Familien einst prächtige Gebäude errichtet. Doch seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat ein Großteil der Wohlhabenden ihre Innenstadtwohnungen verlassen und ist in elegante neue Wohnviertel gezogen. Kleine Handwerker*innen, informelle Händler*innen, Prostituierte, Dealer*innen, Obdachlose haben sich nach und nach der Viertel bemächtigt und sich dort eine – oft prekäre – Existenz aufgebaut. Im Jahr 1977 wurde auf der Konferenz der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in Quito beschlossen, die historischen Altstädte in Lateinamerika zu bewahren. Diese „Rettung“ sollte zwei Elemente haben: vom Verfall bedrohte historisch wertvolle Gebäude mit öffentlichem Geld und internationalen Krediten zu sanieren und gleichzeitig die Armen, vor allem die informellen Händler*innen, aus den Vierteln zu vertreiben. In einem zweiten Schritt sollte die Privatwirtschaft aktiv werden und schicke Hotels sowie Wohnungen für Wohlhabende bauen. Für die Sanierung der historischen Bauten wurden von der Weltbank, der Interamerikanischen Entwicklungsbank und der internationalen Entwicklungshilfe zweistellige Milliardenbeiträge als Kredite zur Verfügung gestellt, die tatsächlich bewirkten, dass viele historische Gebäude in neuem Glanz erstrahlen. Darin wurden Büros, Kultureinrichtungen, Restaurants angesiedelt. Auch entstanden – teilweise in den alten Gebäuden – neue, noble Hotels. Doch alles weitere funktionierte nur ansatzweise. Die Vertreibung der Armen, insbesondere der informellen Händler*innen und Handwerker*innen, wurde zwar mehrfach angegangen, doch die Vertriebenen kehrten immer wieder zurück. In den Innenstädten können sie leidlich überleben, anderswo fehlen Plätze und Kund*innen. Die Angehörigen der gehobenen Mittelschichten zeigten bisher wenig Interesse, aus ihren eleganten Neubauvierteln in die Innenstädte zu ziehen, entsprechend hält sich die private Bauwirtschaft zurück. Derzeit scheint die Gentrifizierung in Lateinamerikas Innenstädten zu stagnieren, aber das kann sich schnell drehen, wenn sich die ökonomischen Rahmenbedingungen verändern. Insofern zeigt unser diesjähriger Sommer-Städte-Schwerpunkt eine Momentaufnahme eines widersprüchlichen Prozesses im umkämpften Raum der Städte.
PS. Mit dieser Ausgabe verabschieden wir uns in unsere jährliche Sommerpause. Im August gibt es keine ila, wir melden uns wieder Mitte September.