Als wir in der Redaktion über das Thema „Salud Mental“, also psychische Gesundheit, zu diskutieren begannen, kam der Einwand, dass diese Fragestellung passé sei. Vielmehr müsse es um die Frage gehen, wie alle besser oder gut leben könnten.

Und wie gehen die Gesellschaften mit Abweichungen um? Müssen „verhaltensauffällige“ Menschen gesellschaftsfähig gemacht oder nicht vielmehr die gesellschaftlichen Ursachen verändert werden? Oder ist es nicht so, dass gerade die Normalität zuallererst hergestellt werden muss? Michel Foucault hat darauf hingewiesen, dass sich die staatliche Organisierung von Gesundheitspolitik regelmäßig auf solche hergestellten Normen bezieht, wenn es ihr darum geht, einzelne Menschen zu disziplinieren und ganze Bevölkerungen zu regulieren. Das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus führt dazu unter dem Stichwort „gesund/krank” aus: „Die Normalität von Menschen und ihren subjektiven bzw. sozialen Zuständen wird dabei nicht inhaltlich bestimmt, sondern über die funktionale Entgegensetzung zu allem, was davon abweicht. Solche Exklusion bestätigt im selben Zug die Norm und die Normalität der ‚Normalen’ und befreit auf diese Weise die Gesellschaft von ihren kritischen Elementen.”

Die Definition von Abweichungen war immer eine offene Herrschaftspraxis europäischer Gesellschaften. Im Paris des 18. Jahrhunderts war dauerhaft ein Prozent der Stadtbevölkerung im Hôpital général interniert; das waren nicht nur die „Irren“, sondern auch Kriminelle, Arme, chronisch Kranke, Obdachlose und sogenannte Arbeitsscheue. Den Blick, unter dem diese Bevölkerungsgruppen gesehen wurde, entlarvt die Bezeichnung, mit der sie benannt wurden, nämlich „gefährliche Klassen“. Erst 1805 beginnt der Arzt Esquirol von „maladies mentales” zu sprechen und so die Abweichung der „Verrückten” zu einem medizinischen statt einem Sicherheitsproblem umzudefinieren. Vieles in der Antipsychiatriedebatte seit den sechziger Jahren greift genau diese Medizinisierung an.

Gleich-zeitig feiert sie auf anderer Ebene fröhliche Urständ. In vielen Ländern orientiert sich die psychische Gesundheitsversorgung am DSM-5, dem „Diagnostischen Handbuch“ der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA) von 2013. Der niederländische Psychologie- und Psychiatrieprofessor Peter de Jonge kritisiert dieses „Handbuch“: Es sei nicht diagnostisch, weil es ausschließlich Klassifikationen enthalte. Es sei auch nicht statistisch, sondern basiere auf Konsensdefinitionen bestimmter Expert*innen. „Das DSM ist vor allem für die Krankenversicherungen wichtig, um etwas über die vermeintlichen Kosten einer Störung aussagen zu können.“ Die Vorgeschichte dieses Handbuches: Im Jahr 1980 veröffentlichte der Psychiater Robert Spitzer zusammen mit seinem Team das DSM-3. Die Veröffentlichung bedeutete einen einschneidenden Wandel in der Hinsicht, wie mentale Krankheiten definiert und diagnostiziert werden. Die Anzahl der im DSM aufgeführten Krankheiten und Störungen ist stetig von 106 (DSM-1) auf 374 (DSM-5) angestiegen. Eine Studie der University of Massachusetts hat sogar herausgefunden, dass 69 Prozent der DSM-5-Mitarbeiter*innen Verbindungen zur Pharmaindustrie hatten. Claro: Je mehr „psychische Störungen“ diagnostiziert, desto mehr Pillen können auch verschrieben werden.

Dennoch bleibt die Tatsache, dass Menschen unter psychischen Defiziten, Krankheiten, Störungen, oder wie immer man es bezeichnen mag, leiden. Diese Menschen benötigen Unterstützung und dabei stellt sich die Frage, wie diese aussehen kann, damit sie die Betroffenen nicht psychiatrisiert, sondern sie befähigt, ihre Probleme zu bearbeiten und sich von ihren Ängsten zu befreien.

So finden gleichzeitig mehrere, in verschiedener Weise widersprüchliche Prozesse statt. Immer mehr Lebenssituationen werden als behandlungsbedürftige Störung beschrieben, obwohl seit Jahrzehnten überall auf der Welt Menschen beweisen, wie befreit und befreiend man damit umgehen kann. Während sich mancherorts die Türen der Anstalten öffnen, werden die Gesellschaften uniformer, „normaler“, und in den verbleibenden Anstalten verschlechtern sich die Arbeitsbedingungen des Personals und die Lebensbedingungen der Insassen derart, dass alte (Fixierungen) und neue (Ruhigstellung mit Psychopharmaka) Foltermethoden ein umfassendes Comeback erleben. Undiskutiert bleibt allenthalben die Tatsache, dass in einer ver-rückten Welt „Normalität” ein Problem und keine Perspektive ist.

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