Die warme Jahreszeit ist da. Bald wird sich auch zeigen, welcher Song das Zeug zum Sommerhit 2018 hat. Der Hit, vor dem es letztes Jahr kein Entrinnen gab, war „Despacito“ von Luis Fonsi und Daddy Yankee. Ein bekannter Radiosender rief einen „Despacito-Tag“ ins Leben, in dem unter anderem weltweite Cover-Versionen von „Despacito“ vorgestellt wurden (was durchaus Unterhaltungswert hatte); ein Youtube-Video ging viral, in dem italienische Komiker im Auto sitzen und über den Song lästern, ihn aber am Schluss doch alle abfeiern, inklusive Perreo-Tanz mit halbnacktem Popo an der Windschutzscheibe. Und Venezuelas abgehalfterter Präsident Maduro versuchte die Popularität des Hit-Songs für seine Zwecke zu nutzen und warb mit umgedichtetem Text für sein Verfassungsreferendum. Musikwissenschaftler und Blogger schreiben vom „Despacito-Effekt“ und meinen damit, dass durch diesen Mega-Hit nun erstmalig ein lateinamerikanisches Musik-Genre in aller Ohren ist und damit die englischsprachige Vorherrschaft auf dem Mainstream-Musikmarkt geknackt hat. Party-Veranstalter bestätigen, dass seit letztem Sommer ihre Reggaetón-Partys noch mehr Zulauf bekommen haben. Wer dieses Jahr zufällig in Spanien unterwegs ist, hört Reggaetón überall, im Hintergrund oder Vordergrund: im Supermarkt, im Restaurant, im Kaufhaus, an der Strandbar. Und der Song zur Fußball-WM 2018, „Live it up“, wird interpretiert von Will Smith, Era Istrefi und Nicky Jam. Letzterer übrigens ein Reggaetonero der ersten Stunde, der auf eine über 20 Jahre lange Musikerkarriere zurückblickt.
Reggaetón ist heute so kommerziell erfolgreich wie nie zuvor, wozu sicherlich beigetragen hat, dass sich der Sound, die Performance und die Inhalte dem Markt angepasst haben; das Ganze ist heute weichgespülter als noch vor 10, 20 oder 25 Jahren. Allerdings ist der Markt manchmal auch gierig nach einer gewissen Ästhetik oder Poetik des Schmutzes. Oder wie es der Sänger Pitbull ausdrückt: „Sie wollen alle mit mir zusammenarbeiten, um ihren langweiligen Sound aufzupeppen. Ich geb‘ ihnen ein bisschen Straßenflair. Meine Arbeit ist es, ihre Songs etwas dreckiger zu machen.“
Reggaetón hat eine wechselvolle Geschichte; bei dessen Entstehung und Weiterentwicklung spielten Migrationsbewegungen in der Karibik und die Lebensbedingungen marginalisierter Bevölkerungsgruppen (in Puerto Rico oder in der US-amerikanischen Diaspora) eine wichtige Rolle. Gleichzeitig hat Reggaetón schon immer polarisiert und hitzige Debatten provoziert, vor allem wegen seiner zum Teil (extrem) frauenfeindlichen Songtexte und Darstellungsformen. Kriminalisierungs- und Zensurversuche richteten sich gegen Sexismus und Gewaltverherrlichung. Die einst verfolgten Künstler*innen der 90er-Jahre – von denen eine erstaunliche Menge heute noch aktiv ist – sind im Nachhinein rehabilitiert worden: Heutzutage füttert Reggaetón Puerto Ricos Nationalstolz, dort hat der Musikstil einen derartigen Stellenwert, dass im Jahr 2007 der 15. September zum „Internationalen Tag des Reggaetón“ deklariert wurde.
Jenseits des Mainstreams hat es schon immer kritische Künstler*innen im Reggaetón gegeben, die viel über die gesellschaftspolitische Situation in den verschiedenen Ländern vermitteln und kulturpolitische Debatten anstoßen. Und mittlerweile melden sich zum Glück immer mehr weibliche Stimmen zu Wort, die zum Teil stereotype Rollenklischees bedienen, zum Teil das patriarchale Genre mit ihren Texten und Performances unterwandern. Einige von ihnen und die unbekannteren Kapitel in der Geschichte des Reggaetón stellen wir in diesem ila-Schwerpunkt vor.