Dass große Teile der ila-Redaktion musikbegeistert sind, dürfte sich herumgesprochen haben. In den letzten Jahren haben wir uns mit großem Eifer einzelnen musikalischen Genres wie Tango, HipHop, Cumbia oder Reggaetón gewidmet. Und dabei streiften wir immer wieder die Kunstform, die unmittelbar mit Musik verknüpft ist: Tanz, beziehungsweise unterschiedliche Tanzkulturen. So lag es nahe, einmal einen ganzen Schwerpunkt dieser Kunstgattung zu widmen. Ein weites Feld. Um die reichhaltige Unübersichtlichkeit besser handhaben zu können, strukturierten wir den Untersuchungsgegenstand. Wir wollten drei Sphären möglichst gleichberechtigt abdecken. Zum einen den Tanz der „großen Bühnen“, Stichwort Tanztheater und Artverwandtes, was einst als europäischer Import in Lateinamerika galt, heute aber eigenständig und gleichberechtigt mithalten kann. Die aktuelle Kinoproduktion „Yuli“ über den cubanischen Tänzer Carlos Acosta spiegelt dies eindrücklich wider. Mehrere Male sind wir allerdings auch auf Aussagen von Tanzschaffenden gestoßen, die sich kritisch äußern über die rigiden Körperlichkeits- und Beweglichkeitsvorgaben des Klassischen Tanzes, weshalb sich diese Künstler*innen anderen Tanzformen zugewandt haben.
Als zweites wollten wir die traditionellen Tanzkulturen unter die Lupe nehmen, die gemeinhin unter dem Label „Folklore“ firmieren und seit kolonialen Zeiten vor allem bei Feierlichkeiten des Kirchenjahres zelebriert werden, etwa zu Karneval oder zur Huldigung der verschiedensten Erscheinungsformen der Jungfrau oder anderer Heiliger. Diese Tänze werden zum einen mit Regelwerken und daran orientierter Praxis gepflegt: So erteilt zum Beispiel die Tanzgemeinschaft Fraternidad Salay Bolivia mit Sitz in Cochabamba eine offizielle Genehmigung, wenn Tochtergemeinschaften für den Salay-Tanz gegründet werden (solch eine Zweigstelle kann dann auch in Bonn beheimatet sein). Teil dieser Gemeinschaft zu sein bedeutet, die gleichen Kostüme zu tragen, die gleichen Schritte zu tanzen und die gleichen Lieder zu verwenden. Zum anderen entwickeln sich diese Tänze trotz der Traditionspflege weiter. So berichtet die Candombe-Tänzerin Ángela Alves aus Uruguay darüber, welche Transformationen dieser afro-uruguayische Tanz über die Jahrhunderte hinweg durchlebt hat.
Schließlich wollten wir den eher zeitgenössischen pop- oder subkulturellen Tanzkulturen Raum geben und sind bei Salsa Choque und Perreo in Kolumbien sowie beim Breaking, dem Urban Dance der Hiphop-Szene, in Brasilien fündig geworden.
Die von uns vorgenommene Unterteilung hat sicherlich keine trennscharfen Linien. Der Tanz der „großen Bühnen“ zeigt sich nicht unbeeinflusst von aktuellen populären Entwicklungen und der Bühnentanz wirkt wiederum auf die Straße zurück. Überall stellt sich jedoch die Frage: Wer soll das alles bezahlen, wer kann sich Tanzen überhaupt leisten beziehungsweise sogar davon leben? Welche Rolle spielt der Staat bei Finanzierung, Förderung und Bereitstellung von Infrastruktur, aber auch im Hinblick auf Reglementierung oder gar repressiver Verfolgung? Und wie reagieren die Künstler*innen auf erschwerte Umstände, etwa die unabhängige Tanzszene im Chile unter der Pinochet-Diktatur oder die Street-Dancer in den heutigen brasilianischen Metropolen?
Im Tanz werden immer auch Geschlechterrollen verhandelt; gesellschaftliche Veränderungen im Geschlechterverhältnis spiegeln sich wiederum im Tanz wider. Tanz ist zutiefst identitätsstiftend und er kann Empowerment bedeuten. Immer steht er für eine Gemeinschaft.
„Ich lobe den Tanz, denn er befreit den Menschen von der Schwere der Dinge, bindet den Vereinzelten zu Gemeinschaft.“ Dieses Zitat wird fälschlicherweise dem Kirchenlehrer Augustinus von Hippo (354-430) zugeschrieben und zirkuliert immer wieder gerne in tanz-affinen Kreisen. Weiter heißt es in dem poetischen Text: „Ich lobe den Tanz, der alles fordert und fördert: Gesundheit und klaren Geist und eine beschwingte Seele (…) Der Tanz fordert den befreiten, den schwingenden Menschen im Gleichgewicht der Kräfte.“
Schade, dass das Zitat nicht echt ist, denn sonst könnte es wirklich vortrefflich als Referenz für tanzbegeisterte Menschen dienen. Denn das Beste ist der Schluss: „O Mensch lerne tanzen, sonst wissen die Engel im Himmel mit Dir nichts anzufangen.“
In diesem Sinne wünscht die ila-Redaktion eine erkenntnisreiche Lektüre und viel Vergnügen bei der nächsten Tanzgelegenheit!