Das Lateinamerika-Magazin

425

Amazonien

In den letzten beiden Monaten erleben wir in Deutschland eine neue Welle des Outings. Es geht aber diesmal nicht um sexuelle Orientierungen, sondern um das Outing prominenter Politiker als reaktionäre Spießer. Dabei hatten sie und ihre Personal-Trainer*innen so lange an bestimmten schönen Images gearbeitet, etwa NRW-Ministerpräsident Armin Laschet als ökologisch bewusster Schwarz-Grüner oder FDP-Chef Christian Lindner als dynamischer Erneuerer mit dem Ohr bei allem, was jung und trendy ist. Aber dann forderten an Freitagen einige zehntausend Schüler*innen auf Demos in ihren Städten längst überfällige Maßnahmen zur Begrenzung des Klimawandels – und plötzlich war alles anders. Laschet, der schon bei den Auseinandersetzungen um den Braunkohletagebau im Hambacher Forst eine schlechte Performance hingelegt hatte, blamierte sich endgültig, als er die Kinder und Jugendlichen aufforderte, statt auf Demonstrationen besser in die Schule zu gehen. Genauso Lindner, der den Schüler*innen empfahl, Klimapolitik besser den Profis aus der Politik zu überlassen.

Letzteres ist aber seit nunmehr 30 Jahren das Problem. Politiker*innen reden beständig vom Klimawandel und davon, dass man diesem entschieden begegnen müsse. Wenn es aber um die dringend notwendigen konkreten Maßnahmen geht, präsentieren sie sich als Büttel der Unternehmen, deren Geschäftsmodell auf dem ungebremsten Ausstoß von Treibhausgasen basiert. Nun könnte man einwenden, dass die Politiker*innen bei uns, wenn man mal von der AfD absieht, den Klimawandel immerhin noch als Gefahr benennen. Anderswo wird er schlichtweg geleugnet oder als zu vernachlässigende Größe abgetan. Das gilt nicht nur für US-Präsident Trump, sondern auch für immer mehr Staatsoberhäupter in Lateinamerika. Jüngstes Beispiel ist Brasiliens Präsident Bolsonaro, für den der Klimawandel kein nennenswertes Thema ist. Deswegen macht er sich auch für eine beschleunigte Entwaldung Amazoniens stark. Die Region müsse nicht geschützt, sondern „entwickelt“ werden, und die dort lebenden Indigenen hätten ohnehin zu viel Land, das weitaus besser genutzt werden könnte.

Die Entscheidung, uns nach den Anden (ila 395, Mai 2016) länderübergreifend mit Amazonien, einer weiteren Großregion Lateinamerikas, zu beschäftigen, fiel schon lange vor der Wahl Bolsonaros. Doch nun erhält das Thema eine neue Aktualität. Amazonien, das heißt die Region, die vom Amazonas-Flusssystem bestimmt ist, besteht jedoch nicht nur aus Brasilien, sondern umfasst Teile der Territorien von sieben weiteren Ländern (Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Peru, Venezuela, Guyana, Surinam) sowie des französischen Überseedepartements Guyane.

In allen genannten Ländern ist das ökologische Gleichgewicht durch Infrastrukturprojekte und eine Intensivierung der landwirtschaftlichen Nutzung gefährdet. Und allerorten sind auch die Lebensgrundlagen der an und von den Flüssen lebenden Menschen, den ribeirinhos bzw. ribereños (Flussanwohner*innen), den Indigenen und den Afro-Gemeinschaften, bedroht. Um deren Wohlergeben und Perspektiven geht es nur sehr selten, wenn von der „Entwicklung“ der Amazonasregion die Rede ist.

Der vorliegende Schwerpunkt „Amazonien“ zeigt aber auch, dass diese Region ein uralter Kulturraum ist und dort seit Jahrtausenden Menschen gelebt haben, die es verstanden, die Lebensräume und ihre Ressourcen zu nutzen, ohne sie zu zerstören. Heute sind das ökologische Gleichgewicht und die Lebensräume der traditionellen Bewohner*innen Amazoniens aufgrund rücksichtsloser Ausbeutung der natürlichen Ressourcen gefährdet – keineswegs wegen der Anwesenheit von Menschen an sich, wie manche konservative Umweltorganisationen glauben machen wollen, die Land kaufen und zu Schutzzonen erklären.

In Amazonien wie bei uns und weltweit geht es um ein Zivilisationsmodell, das die vorhandenen Ressourcen gebraucht, aber nicht verbraucht. Das bedeutet, dass vor allem wir unsere Produktions- und Konsumgewohnheiten verändern müssen.


Schwerpunkt

4  Am Amazonas
Von Wassern, Wäldern und Weltsichten
von Naomi Rattunde

7  Wie der Amazonas zu seinem Namen kam…
…und der Conquistador Orellana einen Fluss entdeckte, der schon da war
von Laura Held

9  Von wegen unbewohnte Wälder
Die Amazonas-Archäologie belegt eine mehrtausendjährige Siedlungsgeschichte und nachhaltige Landnutzung in Amazonien
von Carla Jaimes Betancourt

11  Amazônia, Kautschuk und der Zeitgeist
Produktionsverhältnisse und Sozialverträglichkeit im Wandel der Zeit
von Simon Hirzel

13  In der Tradition der Militärdiktatur
Trotz polternder Äußerungen ist von Bolsonaro keine grundlegend neue Amazonienpolitik zu erwarten
von Wolfgang Meier

15  SOS für die Völker Amazoniens
Brasiliens Indigene warnen in Brüssel vor der Politik Bolsonaros
von Mirra Banchón

17  Filme gegen die Zerstörung
Martin Keßler verfolgt seit mehr als zehn Jahren die Folgen des Staudammbaus am Rio Xingú in Amazonien
von Gert Eisenbürger

19  Nationalpark Madidi: Stromexport statt endogener Entwicklung
Die Situation der Naturschutzgebiete in Bolivien ist kritisch
vom CEDIB

22  Die letzte Chance für den Yasuní
Ecuador: Die Mobilisierung gegen die umstrittene Ölförderung in der Amazonasregion gewinnt an Kraft
von Manuel Bayón

24  Der gestörte Frieden im Regenwald
In Kolumbiens Amazonasregion wird immer mehr abgeholzt
von Bettina Reis

26  Wissen bewahren
Wo der Zugang zum Gesundheitswesen fehlt, ist die Kenntnis traditioneller Heilpflanzen überlebenswichtig
von Mariano Flores Roedel

29  Von Forschern und Sammlern
Der Amazonas-Reisebericht des britischen Botanikers Richard Spruce in einer aufwändigen Neuauflage
von Helmut Schaaf

30  Der Traum von Deutsch-Guyana
Otto Schulz-Kampfhenkels Amazonas-Expedition 1935-37
von Laura Held

33  Die Boygroup aus dem Dschungel
Los Wembler‘s de Iquitos spielen seit 50 Jahren Cumbia Amazónica
von Britt Weyde

Berichte & Hintergründe

34  Kämpfe um ein Stück vom Kuchen
Haiti: Schon seit Monaten gibt es gewaltsame Proteste in dem armen Karibikstaat
von Hans-Ulrich Dillmann

36  Venezuelas Bevölkerung muss über die Erneuerung entscheiden
Interview mit dem venezolanischen Soziologen Edgardo Lander
von Britt Weyde

39  Das explodierende Schweigen
In Argentinien haben Kinder der Täter ein Buch gegen das Vergessen veröffentlicht
von Gaby Küppers

41  Cherán wird langsam wieder grün
Mexiko: Salvador Campos Gembe über den Kampf gegen den Holzschlag und für indigene Selbstbestimmung
von Gerold Schmidt

43  Wo die Hoffnung entspringt
Ein Interview mit der Anthropologin Rita Segato über die lateinamerikanischen Feminismen
von Esther Andradi

45  Ortega glaubt, dass Nicaragua sein Eigentum ist
Interview mit Vilma Núñez von der nicaraguanischen Menschenrechtskommission CENIDH
von Ina Hilse

47  Das gebrochene Versprechen
Rezension: „Vom Triumph der Sandinisten zum demokratischen Aufstand. Nicaragua 1979–2019“
von Manfred Liebel

50  Die langen Schatten der Vergangenheit
Uruguay: Präsident Tabaré Vázquez entlässt sechs Generäle
von Wolfgang Ecker

52  Hasta la dignidad siempre!
Honduras: Interview mit Martín und Víctor Fernández, Preisträger des Bremer Solidaritätspreises
von Erika Harzer und Kirstin Büttner

54  Compañero Estanislao
Mario Monje Molina, der Mann, der Che nicht folgte
von Ewgeniy Kasakow

Kulturszene

57  Zuckerrohrschnaps und Zwangsadoptionen
Neue Romane aus Haiti: „Im Namen des Katers“ und „Die Zurückgekehrten“
von Klaus Jetz

Solidaritätsbewegung

58  Notizen aus der Bewegung, Impressum

Titelfoto: Gabriela Delgado Maldonado