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Anfang Mai 2019 kursierte eine E-Mail: „WhatsApp und andere soziale Netzwerke werden kurz vor den EU-Wahlen mit Falschnachrichten geflutet – und die Extremisten profitieren davon!“ Komisch, auf unseren WhatsApp- oder Facebook-Konten kam nichts dergleichen an. Also alles halb so wild? Sehr wahrscheinlich hat es daran gelegen, dass wir qua algorithmischer Einordnung gar nicht in Gefahr geraten, in den Einzugsbereich rechter Fake News und durchgedrehter Verschwörungstheorien zu gelangen. Unsere Filterblasen schützen uns praktisch davor. Umso überraschender dann Ende Mai 2019 DAS medienpolitische Ereignis des Jahres: Rezos millionenfach geklicktes YouTube-Video „Zerstört die CDU“, worin der Influencer auf die Versäumnisse der GroKo hinweist, vor allem bei der Klimapolitik. Klimapolitische Themen stehen im Hinblick auf die Algorithmen gerade ganz gut da. Aber was ist, wenn sich die algorithmische Lage wieder ändert? 2015 kursierten vor allem Meldungen zur sogenannten Flüchtlingskrise, was auch von öffentlich-rechtlichen Medien verstärkt wurde. Sind wir den Mechanismen der beiden großen Global Tech Player Google (samt YouTube) und Facebook (samt WhatsApp und Instagram) hilflos ausgeliefert?

Das Kerngeschäft von Fake News besteht darin, andere schlecht zu machen. Aufregerthemen gehen viral, verbreiten sich rasend schnell. Je kürzer, je empörter, je skandalöser ein Post in den sozialen Medien ist, desto besser. Emotionen werden geweckt. Wahrheitsgehalt spielt keine Rolle.

WhatsApp und Facebook werden auch in Lateinamerika massiv genutzt, vor allem aufgrund ihres vermeintlich kostenlosen Charakters. Auch dort wird das Problem der rechten Meinungsmache und der Fake News diskutiert, denn die Tatsache, dass sich die Leute heute vor allem über Werbeplattformen informieren, die unzutreffend „soziale Medien“ genannt werden, hat handfeste politische Auswirkungen. In Brasilien und El Salvador wurden die jüngsten Wahlen nicht über Präsenz und Debatten in den traditionellen Medien gewonnen, sondern über gut vorbereitete und teure WhatsApp-Kampagnen. In Brasilien siegt so der Rechtsextremist Jair Bolsonaro, in El Salvador der politische Wende-hals und PR-Profi Nayib Bukele. Die brasilianischen WhatsApp-Nutzer*innen wurden während des Wahlkampfs mit gefälschtem, häufig explizit sexuellem Inhalt geflutet, wie etwa der Meldung, dass die Arbeiterpartei plane, Babyfläschchen mit Nuckel in Penisform zu verteilen, um die Homosexualisierung der Kleinkinder voranzutreiben.

Haarsträubendes postfaktisches Zeitalter – warum fallen Fake News auf fruchtbaren Boden? Klar ist: Klassische Medien haben ihre Funktion als „Gatekeeper“, als Instanzen, die sortieren und filtern, längst eingebüßt. Die Gesellschaften werden vielfältiger und unübersichtlicher: mehr Pluralität auf der einen Seite, andererseits immer tiefere Gräben, die sich durch die Gesellschaften ziehen. Die mediale Öffentlichkeit und die Zugangsbedingungen zu ihr wandeln sich. Die Menschen misstrauen „denen da oben“ durchaus zu Recht. Aber die kommerziellen Global Tech Player beherrschen die Räume für Kommunikation, Information und Meinungsbildung mit Algorithmen. Das hat Folgen. Das Geschäftsmodell basiert auf Datenschürfen, kombiniert mit persönlich zugeschnittener Werbung. Du bekommst das, was du sehen und hören willst, nicht was wahr ist und den Tatsachen entspricht. Und davon profitieren vor allem rechtspopulistische Akteure.

Gibt es dazu einen funktionierenden linken Gegenentwurf? Wir, die Macher*innen der ila und ähnlich Gesinnte, wollten eigentlich schon immer zur Bildung einer Gegenöffentlichkeit beitragen, positionierten uns gegen den „bürgerlichen Journalismus als Stellvertreterjournalismus“, wollten „Betroffenenberichterstattung“. Heute haben Rechte und Rechtsextreme den Begriff „Gegenöffentlichkeit“ für sich gekapert. Und jetzt haben wir den Salat.

Aktuell existiert eine Öffentlichkeit jenseits der Dichotomie „staatlich geregelt oder privat“. Wir haben kein Problem mehr damit, unsere eigenen Inhalte zu verbreiten und eigene Medien zu schaffen. Das stellt allerdings noch längst nicht sicher, dass wir auch gehört werden. Der springende Punkt ist nicht mehr der Zugang, sondern die Reichweite. Wir konkurrieren mit allen anderen Anbietern von welcher Information auch immer um Aufmerksamkeit. Und dabei verfügen wir, kaum anders als früher, immer noch über die schwächeren Möglichkeiten.

Wie sieht also das Überleben im „Plattformkapitalismus“ aus, wie sich darin bewegen, schützen, informieren, seine Meinung bilden und als politisch Aktive oder alternative Medienschaffende die eigenen Inhalte verbreiten? Dazu ein paar Ideen, die sich aus der Auseinandersetzung mit dem Thema und lateinamerikanischen Gesprächspartner*innen herauskristallisieren: Versteht, die Technik zu verstehen (in Lateinamerika ist die Rede von hackear la tecnología, also die Technologie für die eigenen Zwecke zu nutzen wissen), wahrt eine kritische Distanz, haltet eure Informationsquellen vielfältig (was vor allem auch Kindern und Jugendlichen vermittelt werden sollte), schafft und nutzt alternative Plattformen. Manchmal kann auch digitales Fasten das Gebot der Stunde sein. Handy aus und raus auf die Straße – oder in den Wald.