Das spanische Wort für Dolmetscher*in, Intérprete, trifft es gut, denn beim Übersetzen geht es auch ums Interpretieren. In der ila gehört dies zu unserem Kerngeschäft: Geschichten übersetzen, von der einen in eine andere Wirklichkeit übertragen, mitunter interpretierend eingreifen. Dabei stoßen wir immer wieder an Grenzen. Beziehungsweise an Begriffe, die uns die Hirnzellen heißlaufen lassen. Pueblo. Volk? Nein, das ist nazi-mäßig aufgeladen, also Bevölkerung. Popular. Dieser Begriff sollte im Deutschen endlich etabliert werden. Nein, nicht populär. Das ist Helene Fischer. Oder Nicky Jam. Aber wir reden gerade nicht von Popstars, sondern von sozialen Kategorien. Also: Populare Klassen, populare Stadtteile. Check. Dafür geht das nächste gar nicht: raza. Aber englischsprachige Wissenschaftler*innen benutzen häufig race, um über bestimmte Machtbeziehungen zu sprechen. Also: Fußnote und erklären, warum wir es jetzt auf Englisch doch stehen lassen. Ähnlich unterirdisch: mulato. Weg mit dem biologistischen Scheiß aus dem Tierreich, anderes Wort nehmen oder eben auch: erklären, weshalb zum Beispiel haitianische Autor*innen mulâtre als soziale Kategorie verwenden. Pueblos originarios. Ursprüngliche indigene Bevölkerungsgruppen. Megasperrig, aber wie denn sonst bitte? Líder. Nix Führer. Lieber Führungspersönlichkeit oder Sprecher*in. Comunidad. Gemeinde (von der Kirche?) oder Gemeinschaft? Von Fall zu Fall entscheiden. Territorio. Territorien klingt blöd und trifft nicht alle Elemente dieses meist indigenen Konzepts. Poner el cuerpo. Nahkampf (mit der Polizei), auf die Straße gehen, aktiv Politik machen, nicht nur Internet-Aktivismus. Sororidad. Solidarische Schwesterlichkeit – oder ist das wieder zu binär? Pibes. Kids, mittlerweile genügend eingedeutscht?

Wie dieser kleine Einblick in die Mühen des Redaktionsalltags schon zeigt: Das mit der Sprache bleibt schwierig. Diskussionen um Sprache, Bedeutungen und Politik finden aktuell vielerorts statt. Leider werden diese Debatten häufig in denunziatorischer Art geführt, vor allem gegen gendersensible Sprache und ein „Zuviel“ an Identitätspolitik gerichtet. Auch in Lateinamerika gibt es Dispute um die sogenannte Lenguaje inclusivo. Und schließlich gehören zu einer Sprachpolitik, die inklusiv sein will, auch die Anerkennung und Förderung von Gebärdensprachen.

Die Vereinten Nationen haben 2019 zum „Internationalen Jahr der indigenen Sprachen“ erklärt. Damit soll gezeigt werden, wie wichtig deren Schutz, Wiederbelebung und Förderung sind. Viele indigene Sprachen sind vom Aussterben bedroht, weil sie jahrhundertelang kulturell entwertet worden sind. Zur weiteren Schwächung und Zerstreuung ihrer Sprecher*innen tragen Migration und Globalisierung bei.

Im Februar 2019 machte die indigene Mixe-Aktivistin Yásnaya Aguilar auf die bedrohte Lage der indigenen Sprachen Mexikos aufmerksam. In ihrer Rede vor der mexikanischen Abgeordnetenkammer erzählte sie, dass im Jahr 1862, also gut 50 Jahre nach der Staatsgründung Mexikos, noch 65 Prozent der Bevölkerung eine indigene Sprache sprachen. Heutzutage beherrschen nur noch ein Zehntel davon, 6,5 Prozent der Mexikaner*innen, eine indigene Sprache. Die ehemalige Mehrheit ist zur Minderheit gemacht worden. „Unsere Vorfahren wurden geschlagen, beschimpft und diskriminiert, wenn sie in ihrer Muttersprache redeten“, erklärt Aguilar. „Deine Sprache ist nichts wert, wurde ihnen gesagt. Um Mexikaner*in zu sein, musst du die Nationalsprache sprechen. Und das ist Spanisch.“ Vor allem das Schulsystem hat zum Verlust der Sprachenvielfalt beigetragen.

Allerdings sind im digitalen Raum neue Möglichkeiten entstanden, bedrohte Sprachen finden auch in den sozialen Medien statt. Sprachlern-Apps können etwa zur Revitalisierung beitragen. Ein weiteres Beispiel, das Hoffnung macht: Mitte Oktober berichtete die Presse, dass die peruanische Studentin Roxana Quispe Collantes an der Universität von San Marcos, Lima, ihre Doktorarbeit in Literaturwissenschaften auf Quechua verfasst und verteidigt hat – das erste Mal in der 468-jährigen Geschichte der Universität, obwohl Quechua in der Andenregion von etwa acht Millionen Menschen gesprochen wird.

Das Thema Sprache bleibt also hochaktuell. Wie wird es in Lateinamerika diskutiert? Welche Kämpfe und Strategien zur Revitalisierung gibt es für bedrohte Sprachen? Was hat das alles mit Identität zu tun? Wo behindert die Politik, wo diskriminiert sie, wo kann sie fördern? Diese Fragen wollen wir hier besprechen, in hoffentlich verständlicher Sprache. Also auf populare Art und Weise. Und schwesterlich solidarisch sowieso.

Der November- und Dezemberausgabe liegt wie alljährlich unser Brief an die Leser*innen bei. Schön, wenn ihr ihn beachten würdet.