Das 19. Jahrhundert gilt als „Museum Age“. Der Grund: In dieser Zeit hat sich das Museum, wie wir es heute kennen, herausgebildet und es kam sowohl in Europa als auch in Lateinamerika zu einem Boom von Museumsgründungen. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts waren in Lateinamerika die meisten unabhängigen Republiken entstanden, und auch Deutschland wurde nach langem Hin und Her 1871 ein einheitlicher Nationalstaat – aber längst noch keine Republik. Hüben wie drüben wurden die Museen Teil des Nation-Building, in ihnen präsentierten sich die neuen Staaten, so wie sie sich sehen wollten.

Seitdem gehören Museumsbesuche zu den Wochenendbeschäftigungen des städtischen Bildungsbürgertums, bevorzugt in den Wintermonaten, wenn das Wetter schlecht ist. Viele Museen versuchen zwar heute durch erweiterte pädagogische Programme, Outreach-Angebote an sogenannte „bildungsferne“ Schichten, spezielle Angebote für Schulklassen oder digitale Mitmachaktivitäten die Barrieren einzureißen, die viele Kinder und Jugendliche davon abhalten, in die Museen zu kommen, doch werden durch die meisten dieser Initiativen wieder vor allem Kinder aus den Mittel- und Oberschichten angesprochen. So sind und bleiben Museen Teil des bürgerlichen Bildungskanons.

Damit reflektieren sie auch die Veränderungen, die sich im mittelständischen Milieu vollzogen haben und vollziehen. Dienten Museen in der Vergangenheit vornehmlich der Bestätigung der bürgerlich-nationalistischen Weltsicht, setzte der demokratische Aufbruch der späten 1960er-Jahre auch in den Museen einen Prozess in Gang, der feste Werturteile, Wahrnehmungen und eingefahrene Sehgewohnheiten aufbrechen will. Das gilt für Kunstmuseen ebenso wie für historische oder ethnologische Museen. Letztere haben hierzulande im Kontext dieser Entwicklungen teilweise ihre Namen verändert, von völkerkundlichen oder ethnologischen hin zu Museen der Weltkulturen, worin ein verändertes Selbstverständnis zum Ausdruck kommt. Das war auch eine Reaktion auf die Kritik aus der Öffentlichkeit und von immer mehr Wissenschaftler*innen, die sich am fortgesetzten kolonialen Blick vieler Museen und Sammlungen entzündete. Heute verfolgen diese Museen den Anspruch, alte hierarchisierende Sichtweisen – hier das zivilisierte Europa, dort die fremden, „wilden“ „Naturvölker“ – zu überwinden, Vorurteile abzubauen und einen gleichberechtigten Dialog anzustreben.

Ebenso wie in Europa hatten öffentliche Museen auch in Lateinamerika lange Zeit vor allem die Funktion der bürgerlich-nationalen Selbstvergewisserung. Die moderne, urbane, an den Metropolen orientierte Lebensweise und Weltsicht galt lange als unanfechtbar, während andere Kulturen als minderwertig galten und bestenfalls mit exotisierendem Blick betrachtet wurden bzw. werden. Der Unterschied zu Europa bestand einzig darin, dass die als „Primitive“ Bezeichneten nicht in weit entfernten Ländern, sondern in der derselben Nation, aber eben außerhalb des urbanen Kontextes und gutsituierten Milieus leben.

Dabei waren und sind Museen keine autonomen, sondern nicht selten umkämpfte Räume und Ausdruck der jeweiligen gesellschaftlichen Realitäten und Ideologien. Das wurde uns schnell klar, als wir mit den Recherchen und Vorbereitungsarbeiten für einen ila-Schwerpunkt zu „Museen in Lateinamerika“ begannen. Wenn die Beiträge dieser Ausgabe von Museen und den dort geführten Diskussionen, den eingeleiteten Entwicklungen und durchgesetzten Wandlungsprozessen erzählen, sprechen sie immer auch von den politischen und gesellschaftlichen Prozessen in den jeweiligen Ländern. Das wird besonders dort spürbar, wo sich tiefgreifende Veränderungen vollziehen, etwa im Bolivien der letzten 15 Jahre auf dem Weg zu einem plurinationalen Staatswesen oder aktuell in Brasilien in Richtung eines klerikalen Faschismus.

In den lateinamerikanischen Museen und Gesellschaften ist vieles in Bewegung. Der vielleicht auf den ersten Blick unpolitisch erscheinende Schwerpunkt dieser ila wirft Schlaglichter auf diese Prozesse, deren weiterer Verlauf noch längst nicht absehbar ist.

Um die unglaublich vielfältige Museumslandschaft in Lateinamerika mit
ihren Nationalmuseen, unzähligen Museos de Sitio an archäologischen Stätten, den Gedenkstätten und Museen, die an die Opfer von Repression und Krieg erinnern, und vielen anderen Arten von Museen möglichst breit abzubilden, stellen ila-Autor*innen in acht über den Schwerpunkt verteilten Beiträgen ihre „Lieblingsmuseen“ vor.