„Etwas Großes ist passiert und setzt sich fort. Angesichts der Entschlossenheit und Freude der Beteiligten läuft uns immer wieder ein Schauer über den Rücken.“ So euphorisch berichten unsere Autorinnen vom 8. März 2020 aus Chile, an dem 1,8 Millionen Frauen in der Innenstadt von Santiago auf der Straße waren. Dieses „Große“ ist die soziale Explosion im Land seit dem 18. Oktober 2019. Seitdem begehren erhebliche Teile der chilenischen Bevölkerung gegen das politische und wirtschaftliche Modell des Landes auf, gehen regelmäßig auf Demonstrationen, organisieren sich basisdemokratisch in Nachbarschaftsversammlungen.
Diese gigantische Mobilisierung ist nun durch die Verbreitung des Coronavirus und den von der Regierung ausgerufenen Katastrophenalarm (vorerst) zum Erliegen gekommen. Die mutigen Kämpfer*innen der Primera Línea, die in den fünf Monaten des Aufstands täglich in der ersten Reihe die Auseinandersetzungen mit den Carabineros ausgefochten und so den anderen Demonstrierenden so weit wie möglich die Repression vom Leib gehalten haben, desinfizieren jetzt die Metrowaggons. Damit sorgen sie dafür, dass die arbeitende Bevölkerung, die kein Home-Office machen kann, einen minimalen Virenschutz bekommt, und konterkarieren das Bild der asozialen Vandalen, das die Regierung von ihnen gezeichnet hat. Wegen des privatisierten Gesundheitswesens werden die Armen auch in Chile die Hauptopfer der Corona-Krise sein. Der Zugang zu einer guten Gesundheitsversorgung hängt dort vom Einkommen der Betroffenen ab. Rund 26 000 Patient*innen sind 2018 gestorben, während sie auf Wartelisten für einen Krankenhausplatz standen. Aber trotz der düsteren Aussichten sind sich viele sicher: Auch wenn das Virus für die Regierung von Sebastián Piñera wie gerufen kam, bedeutet diese akute Krise nicht das Aus für die chilenische Protestbewegung. Die Erfahrungen der letzten sechs Monate sind zu prägend gewesen.
Neben der massiven Mobilisierung auf der Straße ist es zu einem wahren Aufblühen künstlerischer Protestformen gekommen, seien es die Protestsongs, die Wandmalerei, die feministische Performance oder das Straßentheater. Die Protagonist*innen des Aufstands sind vor allem Schüler*innen, Studierende, Frauen, Mapuche und Rentner*innen. Und sie haben sich nicht unterkriegen lassen angesichts der brutalen Repression, ausgeführt von den militärpolizeilichen Carabineros, die vor Schüssen – vor allem in die Augen –, Vergewaltigungen und Folter nicht zurückschrecken und viele Verletzte und Tote in Kauf nehmen.
Chile galt lange als politisch stabiles Boom-Land. Als internationaler Handelspartner ist es gefragt, mit seinen Naturressourcen (Kupfer, landwirtschaftliche Exportprodukte wie Avocados, Wein, Obst, Fisch, Holz bzw. Zellstoff). Doch der vermeintliche Reichtum des Landes beruht auf einer erbarmungslosen extraktivistischen Ausbeutung von Land, Ressourcen und Menschen. Nach Mainstream-Ökonomen-Meinung macht Chile wirtschaftspolitisch „alles richtig“. Doch auf wessen Kosten? Das Land ist Labor und Pionier eines neoliberalen Modells, das unter der Diktatur von Augusto Pinochet eingeführt und in der noch heute gültigen Verfassung von 1980 festgeschrieben wurde. Nach gut 40 Jahren zeigen sich die Auswirkungen: Die Einkommens- und Vermögensverteilung ist zutiefst ungleich, wichtige Güter und Leistungen der Daseinsvorsorge sind privatisiert: Bildungswesen, Gesundheitsversorgung, Rentensystem, Wasserversorgung, um nur die wichtigsten zu nennen. Die Folge: Große Teile der sogenannten Mittelschicht sind extrem verschuldet – sie werden mit Schulden geboren und sterben damit. Rentner*innen, die irgendwann feststellen müssen, dass ihre Ansprüche bei den privaten Rentenversicherungen ausgelaufen sind, finden sich dann in einer Situation unbeschreiblicher Altersarmut wieder.
Für den 26. April 2020 (nun verschoben auf Ende Oktober) war ein Referendum vorgesehen, bei dem für oder gegen eine neue Verfassung abgestimmt werden soll und darüber, wie und von wem genau die neue Verfassung ausgearbeitet werden soll. Darüber gibt es scharfe Kontroversen, weil die Menschen befürchten, dass die herrschenden Eliten alles unternehmen werden, damit sich nichts ändert.
Chile sei die Wiege des Neoliberalismus, ist stets gesagt worden. Aber seit Oktober 2019 heißt es auch: „Chile wird das Grab des Neoliberalismus sein“. Chile ist aufgewacht.
Aufgewacht ist auch die Chile-Solidarität. In vielen Städten haben sich neue Gruppen gegründet, um die Bewegung in Chile zu unterstützen. Da manchmal auch historische Erfahrungen ganz nützlich sind, erinnern wir in einer ila-Retro-Beilage an einige Aktivitäten der Chile-Solibewegungen in den 70er- und 80er-Jahren. Da das Coronavirus nun auch in Lateinamerika angekommen ist und die Folgen überall spürbar sind, widmen wir dem Thema in dieser Ausgabe einen 20-seitigen Sonderteil. Darin beleuchten unsere Autor*innen jeweils mit einem anderen Fokus unterschiedliche Aspekte der Pandemie in verschiedenen Regionen des Kontinents.