Wer von uns in der ila hätte vorausahnen können, dass der lange geplante Schwerpunkt „Militarisierung in Lateinamerika“ so aktuell würde? Wie in Zeiten der Militärdiktaturen der siebziger und achtziger Jahre patrouillieren in Zeiten von Corona wieder überall in Lateinamerika Militärs auf den Straßen oder vor Supermärkten, riegeln Wohngebiete ab und überwachen Ausgangssperren. Von vielen Regierungen, aber auch in den Selbstdarstellungen der jeweiligen Streitkräfte, werden die Militärs als die einzige Institution präsentiert, die in der Lage sei, den neuen Feind im Innern, das unsichtbare Coronavirus, zu bekämpfen. Das gilt übrigens nicht nur für Lateinamerika. Wenn zum Beispiel die deutsche Bundeswehr extra in der Ukraine die derzeit weltgrößten Transportflugzeuge chartert, um Schutzmasken aus China einzufliegen, die eine oder zwei der vielen am Boden stehenden Maschinen der Lufthansa genauso hätten abholen können, und wenn Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer den Bundeswehr-Maskentransport – trotz Kontaktbeschränkungen – mit einem Riesentross an TV-Kameras und Fotograf*innen am Flughafen empfängt, ahnt man, dass Propaganda und militärische Geschäfte Hand in Hand gehen.

Dafür, dass Militär bei Katastrophen eingesetzt wird, gibt es nachvollziehbare Gründe, wie ein Autor dieser Ausgabe darlegt: Militärs verfügen über die nötige Infrastruktur wie Fahrzeuge oder Hubschrauber und sie haben, im Unterschied zu anderen Institutionen, freie personelle Kapazitäten, da Soldat*innen, wenn sie sich nicht gerade im Krieg befinden, viel Zeit haben, die ihre Vorgesetzten mit Schulungen, Übungen oder Fitnessprogrammen zu füllen versuchen. Dazu kommen in den letzten neoliberalen Jahrzehnten mutwillig herbeigeführte Gründe, vor allem das Kaputtsparen beziehungsweise die Privatisierung öffentlicher Gesundheitssysteme, fehlende Investitionen in den zivilen Katastrophenschutz oder die unzureichende Ausstattung und Ausbildung der Polizeikräfte.

Nun sind wir keine Hellseher*innen und hatten daher die internationale Pandemie bei der Schwerpunktfestlegung nicht im Blick. Vielmehr ging es uns um den wachsenden Einfluss der Militärs und die daraus resultierende Gefahren für Lateinamerikas Demokratien, die seit einiger Zeit unübersehbar sind.

Die Zeiten, als es in vielen Ländern nach dem Ende der Militärdiktaturen einen breiten Konsens gab, dass sich die Streitkräfte in die Kasernen zurückzuziehen hätten und nur für die Landesverteidigung zuständig sein sollten, sind vorbei. Seit der Regierungsübernahme konservativer beziehungsweise rechtspopulistischer Kräfte in vielen lateinamerikanischen Staaten spielen Militärs wieder eine stärkere öffentliche politische Rolle. Am augenscheinlichsten im Brasilien Bolsonaros, aber auch in El Salvador, in Uruguay oder im bolivarianisch regierten Venezuela.

Diese Entwicklung blieb in Europa, auch in der Linken, relativ unbeachtet. Ebenso wie der nach wie vor beträchtliche Einfluss der US-Militärs in Lateinamerika. Wirtschaftlich mag China den USA in Mittel- und Südamerika den Rang abgelaufen haben, aber militärisch hat das Südkommando der US-Army (Southcom) weiterhin die Kontrolle über vieles, was die Streitkräfte im Süden tun und wie sie ausgerüstet sind. Das war unter der Präsidentschaft des smarten Barack Obama nicht anders als unter der des Unsympathen Donald Trump.

Aber die Art der militärischen Einflussnahme hat sich verändert. So werden etwa US-amerikanische Militärberater in Lateinamerika verstärkt durch in den USA ausgebildete kolumbianische Offiziere ersetzt. Auch werden lateinamerikanischen Streitkräften verstärkt Ausrüstung, Ausbildung und finanzielle Mittel für Programme zur Verfügung gestellt, bei denen es vordergründig um Drogenbekämpfung, Katastrophenschutz, den Einsatz gegen die organisierte Kriminalität und die Kontrolle von Migrationsrouten geht.

Über all das berichten wir in dieser ila. Bedanken möchten wir uns bei allen, die uns dabei unterstützt haben, ganz besonders bei den US-amerikanischen Kolleg*innen vom Washington Office on Latin America (WOLA) und der Initiative Stop US Arms to Mexico, deren Analysen uns bei der Vorbereitung dieses Schwerpunktes enorm hilfreich waren und die auch drei Artikel zu dieser ila beigesteuert haben, obwohl sie von den Corona-bedingten Einschränkungen noch stärker betroffen sind als wir. Das gilt auch für die lateinamerikanischen Frauen, mit denen wir intensiv für die Beiträge zu den Fragen von Gender und Militär kommuniziert haben, einem Aspekt, der bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Militarisierung fast immer zu kurz kommt.