Lateinamerika ist seit der Eroberung durch die Europäer*innen ein Ort von Sehnsüchten. Die einen suchten ihr Eldorado, die anderen einen Siedlungsort, wo sie glaubten, neu anfangen zu können, wieder andere träumten von Abenteuer auf dem vermeintlich „wilden“ Subkontinent. Zu Beginn der siebziger Jahre versprach dann ein Argentinier die Schaffung des „neuen Menschen“, meinte aber damit nur, dass Leute für eine nachholende Entwicklung mehr arbeiten sollten.
Doch der Traum von einer „besseren Welt“ wurde nie aufgegeben. Die Ereignisse in Lateinamerika haben Menschen weltweit immer wieder aufhorchen lassen: Cuba, Chile, Nicaragua, El Salvador, Guatemala, Grenada, Chiapas weckten in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts (utopische) Hoffnungen. Doch bis auf Cuba und (im lokalen Rahmen) Chiapas endeten sie alle mehr oder weniger in Niederlagen. Inwiefern Cuba den Kapitalismus überwunden hat und ob der „cubanische Weg“ ein Beispiel für andere sein kann, daran scheiden sich immer noch die Geister.
Gerade in Zeiten der Krise blüht die Phantasie am stärksten. Das war schon so zu Zeiten von Thomas More (sein Künstlername Morus sollte dem Buch mehr Schlagkraft verleiten). Mit seinem „Utopia“ gab er zu Beginn des 16. Jahrhunderts den Träumen einen Namen, der bis heute wirkt. Seine Zeit war eine Epoche der Entdeckungen, Erfindungen, der Flucht vom Land in die Stadt, des Nahrungsmittel- und Arbeitsplätzemangels, der Epidemien, der Kriege. Die Erde war plötzlich keine Scheibe mehr und auch nicht die Mitte des Universums. Der Glaube an einem einzigen Gott und die katholische Kirche begannen zu schwanken. Plötzlich stand der Mensch im Mittelpunkt des Geschehens – für die Mehrheit der Bevölkerung zu viel des Guten.
Unsere heutige Zeit ist zwar nicht vergleichbar mit der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, aber einige der gängigen Narrativen geraten ins Wanken. Nicht der Kapitalismus, aber einige Erzählungen, die ihn stützen: an erster Stelle der Glaube an die Machbarkeit aller Dinge und das ewige Wachstum. Er hat sich spätestens mit dem Klimawandel, dessen Konsequenzen nicht überschaubar sind, erledigt. Auch die absolute Individualisierung im Neoliberalismus bedeutet keineswegs Freiheit und Selbstbestimmung, wie von den Protagonist*innen verkündet wurde, sondern vor allem Vereinzelung, Desintegration und Ausgrenzung. Die „Globalisierung“ bringt weder Entwicklung noch Fortschritt und schon gar keine internationale Solidarität, sondern führt zu einer enormen Machtkonzentration bei wenigen Großunternehmen. Und nicht zuletzt zeigt ein Virus, wie verletzlich wir alle in diesem System sind.
Warum verwandelten sich die Utopien nicht in Realitäten? Waren es eigentlich Utopien? Was sind Utopien überhaupt, und was sind linke Utopien? Neue Erzählungen tauchen auf. Die einen glauben an dunkle Mächte und Verschwörungstheorien, die anderen hoffen auf Alternativen. Veranstaltungen und Publikationen zum Thema „Utopie“ sind wieder aktuell. Aber einfache Antworten auf komplexe Fragen wird man nicht finden. Dadurch fühlen sich manche überfordert. Die Fähigkeit, unklare, ungewisse, mehrdeutige Situationen und Prozesse als solche wahrzunehmen und auch zu ertragen, ist offenbar oft eingeschränkt. Ein-Thema-Bewegungen oder lokale überschaubare Initiativen sind angesagt. Der große Wurf, das aktuelle „Was tun?“ bleibt Utopie, ortlos.
Zwei Themen sind sicher recht neu auf der Agenda: die Umwelt- und die Geschlechterfrage. Immerhin fast 50 Jahre nach dem ersten Appell des Club of Rome 1973 („Die Grenzen des Wachstums“) erzwingt die Umweltfrage langsam die Aufmerksamkeit, die sie braucht. In den Debatten tauchen Begriffe wie Ökosozialismus oder Green New Deal auf, wobei letzteres streng nach kapitalistischer Modernisierung riecht.
Die feministischen Bewegungen scheinen derzeit die erfolgreichsten alternativen Kräfte zu sein. Sie entwickeln am ehesten Visionen, wie es anders gehen könnte. Doch sie sehen sich auch mit aggressiven Gegenbewegungen konfrontiert, die deutlich machen, dass das Patriarchat noch lange nicht am Ende ist.
Wer eine andere, eine bessere, eine menschlichere Gesellschaft will, muss Produktion, also Arbeit, und Reproduktion neu denken. Wie Karl Marx schon sagte, genügt es nicht, wenn der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen. Das heißt aber auch, dass die Wirklichkeit eine Vision braucht, zu der sie sich drängen kann. Es sei denn, man ist einer Meinung mit Helmut Schmidt, der verkündete „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“
Wir haben diesen Schwerpunkt „Linke Baustellen“ genannt. Das heißt, es gibt viele Themen, an denen Neues gedacht und getan werden oder Altes von Grund auf renoviert werden muss. Und dafür braucht es auch Visionen. Wie Gebäude aussehen, die ohne Visionen geplant wurden, sieht man in unseren Städten zu Genüge.