Wie kaum eine andere Weltregion gilt die Karibik in Europa und Nordamerika als Inbegriff für Sonne, Party und Lebensfreude. Entsprechend sind viele Karibikinseln seit langem touristische „Traumziele“, sowohl für den Massentourismus (Dominikanische Republik, Cuba) als auch für ein exklusiveres Publikum (die Inseln der kleinen Antillen). Dazu kommt der in den letzten Jahren rasant gewachsene Kreuzfahrttourismus.
Dass es gegenüber einigen Staaten (vor allem Haiti, teilweise auch Jamaica) bei potenziellen Tourist*innen Vorbehalte wegen der dort herrschenden Gewalt gibt, deutet aber bereits an, dass die Karibikregion keineswegs das „Paradies“ ist, als das sie in den Reiseprospekten dargestellt wird. Das Erbe von Sklaverei und Kolonialismus ist keineswegs überwunden, wirtschaftliche Perspektiven jenseits des Tourismus sind rar. Für einen großen Teil der Jugendlichen ist die Migration in die USA, nach Kanada, nach Großbritannien und Frankreich oft die einzige Perspektive. Dafür riskieren viele ihr Leben, wenn sie etwa aus Haiti in überladenen und nur bedingt seetauglichen Booten versuchen, der Armut zu entkommen.
Die Corona-Pandemie hat viele der vorhandenen Probleme verschärft. Vor allem rächt es sich jetzt bitter, dass die meisten Inselstaaten ausschließlich auf den Tourismus als Motor der lokalen Ökonomie gesetzt haben, während in die Landwirtschaft, die Fischerei oder das verarbeitende Gewerbe kaum investiert wurde. Mit dem fast völligen Ausbleiben der internationalen Gäste sehen sich viele karibische Staaten aktuell mit einer schweren Wirtschaftskrise konfrontiert.
Anders als es der touristische Blick wahrnimmt, besteht die Karibikregion aber nicht nur aus den großen und kleinen Antillen, also den Inselstaaten. Geographisch und kulturell gehören auch die mittelamerikanische, kolumbianische und venezolanische Karibikküste sowie die „drei Guyanas“ (die Kooperative Republik Guyana, die Republik Suriname und das französische Überseedepartement Guyane) zur Karibikregion. Obwohl dort nur etwa halb so viele Menschen leben wie in Deutschland, zeichnet sich die Karibik durch eine enorme ethnische und kulturelle Vielfalt aus. Dort leben Afroamerikaner*innen, Nachfahr*innen europäischer, indischer und indonesischer Einwander*innen, Indigene sowie an der Karibikküste Mittelamerikas die afro-indigenen Garífuna. Neben den offiziellen Landessprachen (Spanisch, Französisch, Englisch, Niederländisch) wird eine Vielzahl von afroeuropäischen Kreolsprachen gesprochen, und auch religiös finden sich neben einer sehr ausdifferenzierten Struktur christlicher Kirchen und afroamerikanischer Religionen auch größere Gemeinschaften von Hindus und Muslimen sowie jüdische Gemeinden.
Neben den mehrheitlich unabhängigen Staaten gibt es eine ganze Reihe von Territorien, die noch immer in unterschiedlichem Status mit den ehemaligen Kolonialmächten verbunden sind. Während die Bürger*innen der französischen Überseedepartements Guadeloupe, Martinique und Guyane zumindest juristisch gleichberechtigte Bürger*innen Frankreichs sind, sind die Bewohner*innen des mit den USA „frei assoziierten Staates“ Puerto Rico etwa bei den US-Präsidentschafts- und Parlamentswahlen nicht wahlberechtigt. Sie müssen aber damit leben, dass eben diese von ihnen nicht gewählte Regierung und deren Streitkräfte bei ihnen Militärstützpunkte unterhalten. Wie übrigens auf den Niederländischen Antillen, deren Inseln nur in internen Angelegenheiten autonom sind. Viele der ehemaligen britischen Kolonien sind zwar unabhängig, aber Staatsoberhaupt ist immer noch die britische Königin, vertreten durch jeweils aus London entsandte Generalgouverneur*innen. Ein solcher hat 1983, ohne von irgendjemand in Grenada gewählt worden zu sein, die US-Regierung zu einer militärischen Intervention des Inselstaates aufgefordert.
Neben vielen wirtschaftlichen und politischen Problemen zeichnen sich die Karibikstaaten überwiegend durch ein hohes Bildungsniveau und ein reiches kulturelles Leben aus: Musiker*innen aus Cuba, der Dominikanischen Republik, Jamaica oder Belize sind gefragte internationale Stars. Werke bildender Künstler*innen aus Cuba oder Haiti sind weltweit in Galerien zu sehen und erzielen hohe Preise. Bücher von Literat*innen aus Haiti oder der englischsprachigen Karibik liegen in zahlreichen Übersetzungen vor. Derek Walcott aus St. Lucia und Maryse Condé aus Guadeloupe erhielten für ihr Werk den offiziellen beziehungsweise den alternativen Literaturnobelpreis.
Die Karibik ist also eine Region, über die es enorm viel zu erzählen und berichten gibt. Auch wenn wir davon in dieser ila nur einige ausgewählte Aspekte aufgreifen konnten, ist der Schwerpunkt mit fast 50 Seiten der umfangreichste in diesem Jahr.
P. S. Der November- und Dezember-ila liegt wie alljährlich unser Brief mit Bitte um Unterstützung bei. Wir freuen uns sehr, wenn viele Leser*innen ihn zur Kenntnis nehmen und uns in der einen oder anderen Form unterstützen.