Und jetzt? Mehr als vier Monate Protest, Streik, Kampf auf den Straßen Kolumbiens, breit und bunt wie nie zuvor. Populare Vollversammlungen, die Gesetzesentwürfe erarbeiten. Die Antwort des Staates: Dutzende Ermordete und Verschwundene. Das alles zeigt: So kann es nicht weitergehen. Kann es nicht? Die Eliten haben genau das vor. Die Befragung des ehemaligen rechtsextremem Präsidenten Álvaro Uribe durch die Wahrheitskommission CEV am 16. August 2021 machte klar, dass selbstherrliche und frauenverachtende Verunglimpfung der Opposition à la Trump weiter Konjunktur hat.
Zu keinem anderen Land Lateinamerikas hat die ila seit der Jahrtausendwende mehr Schwerpunkthefte veröffentlicht. Häufig war dabei die Repression für uns der dringliche Anlass, den Blick auf Kolumbien zu lenken. Neben Mexiko ist Kolumbien das Land in Lateinamerika, in dem es die meisten Gewaltakte gegen Führer*innen sozialer Organisationen, Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen und linke Aktivist*innen gibt.
In den internationalen Medien werden die Repression, die Übergriffe und die politischen Morde von Sicherheitskräften und paramilitärischen Gruppen aus der rechten Szene stets in den Kontext der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem Militär und den verschiedenen Guerillagruppen gestellt. Basierend auf den Berichten von Menschenrechtsgruppen haben wir dem immer widersprochen: Ein Teil der Übergriffe und Vertreibungen stand zwar im Zusammenhang mit den militärischen Konflikten, aber die Gewalt gegen Menschenrechtsverteidiger*innen oder zivile bäuerliche und indigene Gruppen geschah nicht im Rahmen der Guerillabekämpfung. Im Hintergrund stand vielmehr der Landraub großer Bergbauunternehmen und Grundbesitzer, die kleinbäuerliches und indigenes Land ausbeuten oder bewirtschaften wollten. So waren wir nicht überrascht, dass das Friedensabkommen zwischen der Regierung und den FARC, der größten Guerillagruppe, im Jahr 2016 zwar zu einer zeitweiligen Reduzierung, aber keinesfalls zu einem Ende der Gewalt in Kolumbien führte.
Zudem wurde von den in den Friedensverträgen vereinbarten oder anvisierten sozialen und wirtschaftlichen Reformen kaum etwas umgesetzt, sodass die extremen sozialen Unterschiede bestehen blieben. Vor allem in den marginalisierten Vierteln der Städte, in denen viele der sieben Millionen Menschen leben, die wegen der Konflikte auf dem Land zu Binnenflüchtlingen wurden, ist die Armut erdrückend. Insbesondere die dort – aber keineswegs nur dort –
lebenden Jugendlichen haben kaum eine Perspektive und stehen zudem in der Pflicht, ihre Eltern und älteren Verwandten im Alter und Krankheitsfall zu unterstützen, weil die Sozialsysteme völlig unzureichend sind. Deshalb kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu Streiks und Protesten, mit denen soziale Reformen eingefordert wurden. Doch die blieben aus, Kolumbiens konservative bis ultrarechte Regierungen waren zu keinem Zeitpunkt bereit, die Privilegien der Reichen und des gehobenen Mittelstands auch nur geringfügig anzutasten.
Die Pandemie und die dadurch befeuerte Wirtschaftskrise hat die prekär Beschäftigten und Soloselbstständigen in den ärmeren Vierteln besonders stark getroffen und ihre ohnehin kritische soziale Lage weiter verschärft. Als dann die Regierung eine Steuerreform verkündete, die die untere Mittelschicht und die Armen weiter belastet hätte, weil durch höhere Mehrwertsteuern viele Güter des täglichen Bedarfs teurer geworden wären, war die Geduld vieler, vor allem junger Leute zu Ende. Es wurde zu einem „nationalen Streik“ aufgerufen. Darunter sind nicht primär Arbeitsniederlegungen festangestellter Berufsgruppen zu verstehen, sondern vielmehr der Versuch, durch Blockaden und Massenproteste das öffentliche Leben zum Erliegen zu bringen. Solche Streikaktionen hatte es auch in den früheren Jahren gegeben, zuletzt im November 2019. Neu war 2021 die Breite und die Militanz der Menschen, die sich daran beteiligten. Vor allem Jugendliche standen in der ersten Linie bei der Verteidigung der Blockadepunkte und wehrten sich mutig gegen eine extrem gewalttätig agierende Polizei, wobei insbesondere die Spezialeinheit ESMAD durch besondere Brutalität auffiel. Auch als die ersten Todesopfer zu beklagen waren, wichen die Jugendlichen nicht zurück, viele waren von dem Gefühl getragen, ohnehin nichts mehr zu verlieren zu haben.
Die Bilder aus Kolumbien – auf der einen Seite die mutigen Demonstrant*innen, deren Aktionen oft von Musik und von Kunstaktionen begleitet waren, und auf der anderen die martialisch agierenden Sicherheitskräfte – waren Grund genug für uns, einen weiteren Schwerpunkt zu Kolumbien anzugehen. Leider müssen wir auch diesmal über Menschenrechtsverletzungen berichten. Aber vor allem geht es um eine junge, entschlossene und dabei fröhlich-kreative Generation, die für ein anderes, besseres und sozial gerechteres Kolumbien kämpft.