Ihr haltet die 450. Ausgabe der ila in euren Händen. So ein kleines Jubiläum bietet sich an, mal wieder auf die „Bewegung“ zu schauen, in der wir seit unseren Anfängen zu Hause sind. Die ist nach wie vor lebendig und vielfältig. Heute wird Diversität als Merkmal internationalistischer Strukturen explizit hervorgehoben. Die gab es aber auch schon vor 45 Jahren. Aber da waren ideologische Gegensätze wesentlich. Abgrenzung war wichtig. Ganz wichtig.
Heute nicht mehr? Manche meinen, politische Etiketten wie Marxismus-Leninismus, Linkssozialismus, Anarchismus oder Reformismus seien nur Ausdruck bestimmter Grundhaltungen und sozialer Umgangsformen gewesen – diese existierten weiterhin, nur die Etiketten hätten sich gewandelt. Leute, die energisch die reine Lehre predigen, wird es immer geben.
Fakt ist, dass die Zugänge für internationalistisches Engagement heute vielfältiger sind. Lateinamerika ist für Aktive längst nicht mehr so weit entfernt wie vor 45 Jahren. Reisen und elektronische Medien haben persönliche Kontakte über Kontinente hinweg enorm vereinfacht.
Hat sich aber der Antrieb für das Engagement verändert? Gernot Wirth, der bis zu seinem altersbedingten Ausstieg mit knapp 80 über Jahrzehnte dafür gesorgt hat, dass ila-Büro und Verwaltung nicht im Chaos versinken, aber vor allem in vielem Vordenker war, hat immer darauf bestanden, dass der Antrieb für solidarisches Handeln im eigenen Emanzipationsbestreben zu suchen ist. Wenn ein Westberliner Hausbesetzer oder eine badische Radiopiratin in den achtziger Jahren Nicaraguas Recht auf einen eigenen Weg verteidigten, hatten sie auch ihr eigenes Bestreben nach Selbstbestimmung im Kopf. Wenn eine Frau aus der Katholischen Frauengemeinschaft oder eine autonome Feministin die Unterdrückung lateinamerikanischer Frauen thematisierten, waren persönliche Erfahrungen in männerdominierten Strukturen mitgedacht. Wenn unabhängige ostdeutsche Soligruppen, deren hektographierte Blätter uns in den Achtzigern über Umwege erreichten, die partizipativen Ansätze im revolutionären Nikaragua (in der DDR immer mit „k“) hervorhoben, war klar, in welcher Art von Sozialismus sie Beteiligung und Mitbestimmung vermissten.
Natürlich waren und sind gefühlte Verbindungen weit davon entfernt, reale Gemeinsamkeiten zu sein. Was sich ein Hausbesetzer mit studentischem Hintergrund und eine nicaraguanische Bäuerin unter einer selbstbestimmten Zukunft vorstellten, war sehr verschieden. Das war den Solidaritätsbewegungen zu allen Zeiten bewusst. Deswegen wurden immer „gemeinsame Kämpfe“ beschworen. Dies war auch eine Antwort auf die Einsicht, dass es im Nord-Südverhältnis ein Machtgefälle gab. Das war seit den siebziger Jahren ständiges Thema in den Gruppen und auf überregionalen Treffen. Wer darüber diskutierte, war allerdings stets der Meinung, ganz neue Fragen aufzuwerfen. Denn diejenigen, die sie einige Jahre zuvor gestellt hatten, waren inzwischen mit Adorno der Meinung, es gäbe kein richtiges Leben im falschen, also keine egalitären Verhältnisse in ungleichen, kapitalistischen Strukturen, sondern bestenfalls ein weniger falsches.
Aber Lateinamerika ist nicht nur durch Reisen und elektronische Kommunikation näher gerückt. Seit den ersten Ausgaben der ila (anfangs noch ila-info) schrieben wir über die Strategien der multinationalen Konzerne. Dagegen beschworen wir die internationale Solidarität der Arbeiter*innen. Doch deren Interessen waren durchaus verschieden. Die Unternehmen waren vielleicht die gleichen, die Lebens- und Arbeitsbedingungen ihrer Beschäftigten in Mitteleuropa und Lateinamerika waren es keineswegs.
Mit dem Neoliberalismus hat sich manches verändert, bei den Arbeitsbedingungen wie auch bei den Organisationsformen. Großorganisationen wie Parteien und hierarchisch strukturierte Gewerkschaften sind für die neuen Arbeiter*innen kaum noch attraktiv. Sie organisieren sich selbst und teilweise bereits international, wie die Beispiele der Amazon Workers International oder der Kurierfahrer*innen zeigen. Bei den Arbeitsbedingungen der Riders, der Fahr- und Motorradkurier*innen, die Essen und Pakete ausliefern, verschwinden die Unterschiede zwischen Europa und Lateinamerika zunehmend.
Ähnliches gilt für Umweltkämpfe. Die Bewegungen gegen Kohletagebau in Kolumbien ebenso wie im Rheinland und der Lausitz verteidigen Dörfer gegen die Zerstörung durch Riesenbagger, gleichzeitig kämpfen sie für Klimagerechtigkeit. Die Kämpfe finden noch immer unter sehr ungleichen Bedingungen statt. Die Repression in Kolumbien ist härter, die Entschädigungen für die vertriebenen Dorfbewohner*innen in Deutschland sind besser, die Folgen des Klimawandels treffen die Ärmsten am härtesten. Aber: Längst geht es nicht mehr um ein „Wir“ in Europa und ein „Sie“ in Lateinamerika, sondern um die dringende Notwendigkeit, trotz unterschiedlicher Betroffenheit zu gemeinsamen Kämpfen zu kommen.