In der postkolonialen akademischen Debatte und den Critical Whiteness Studies (Kritische Weißseinsforschung) wird seit einigen Jahren kritisch über die Frage und Beurteilung von „kultureller Aneignung“ diskutiert. Es gibt dabei Stimmen, die infragestellen, dass weiße Menschen in den Industriestaaten bestimmte Kleidungsstücke, Frisuren, Gebrauchsgegenstände aus unterdrückten oder marginalisierten Kulturen benutzen, weil sie sie als schön und/oder nützlich betrachten oder weil sie damit eine bestimmte Haltung zum Ausdruck bringen wollen. Heftig umstritten ist zum Beispiel, ob Dreadlocks bei weißen Menschen die „Aneignung eines schwarzen Widerstandssymbols“ sind, eine nonkonforme und antiautoritäre Haltung ausdrücken oder als die Solidarisierung mit den weltweiten Kämpfen gegen Rassismus wahrgenommen werden. Die Critical Whiteness Studies nehmen eindeutig die erste Position ein. Auf der anderen Seite sah der französische Jesuit, Historiker und Philosoph Michel de Certeau (1925-1986) in kultureller Aneignung einen „Handlungsraum der Machtlosen“. Die Aneignung bestimmter Symbole der herrschenden Kultur durch die Unterdrückten birgt für ihn ein subversives Potential. Ähnlich sah es auch ein bis heute lesenswerter ila-Artikel von Ulrich Mercker aus den neunziger Jahren, in denen er der „Globalisierung“ als weltweiter Durchsetzung eines von den industriellen Metropolen des Nordens vorgegebenes Produktions- und Konsummodells die „Kreolisierung“ als Modelle des Wirtschaftens auf der Basis lokaler Traditionen und der Aneignung und Modifizierung nützlicher internationaler Erfahrungen und Technologien entgegensetzte. Bei allen Positionen wird deutlich, dass die ethische Beurteilung kultureller Aneignungen immer etwas mit Machtverhältnissen zu tun hat, dass die Aneignung eines indigenen Symbols durch die internationale Mode- oder Unterhaltungsindustrie etwas anderes ist als die Aneignung europäischer Instrumente in andinen Musiktraditionen.
Womit wir beim Thema dieser Ausgabe wären. Denn wenn es einen Bereich von – gegenseitiger – fruchtbarer kultureller Aneignung zwischen Lateinamerika, Afrika und Europa gibt, dann sind es die Musik und die Musikinstrumente. So haben die Indigenen im Andenraum die von den Kolonisatoren mitgebrachten Instrumente so verändert, dass sie ihre Musiktradition bereicherten. Aus der altspanischen Vihuela, dem Vorläufer der heutigen Gitarren, entstanden in den Anden das Charango oder im Süden Mexikos das Requinto Jarocho, aus dem von europäischen Missionaren eingeführten Harmonium das Pampapiano. Das Bandoneon, das einst als Schifferklavier aus Deutschland nach Südamerika kam, wurde – mit einer sehr viel ausgefeilteren Spielweise – das Instrument, das aus dem Tango am Río de la Plata nicht wegzudenken ist. Aus West- und Zentralafrika kommen verschiedene, in Lateinamerika beliebte Percussioninstrumente wie die Candombe-Trommeln in Uruguay, die Marimba in Mesoamerika, Ecuador und Kolumbien oder der Berimbau in Brasilien. Während die genannten Instrumente über den transatlanischen Sklav*innenhandel nach Südamerika gelangten, konnten wir nicht herausfinden, wie die im südlichen Afrika verbreitete, eher zierliche Mbira oder Kalimba, bei uns auch als Daumenklavier bekannt, nach Jamaica kam und dort zum voluminösen Bassinstrument Rumba Box oder Marímbula mutierte. Eine ganz besondere Geschichte ist auch, wie das in der kleinen afroperuanischen Community gespielte Cajón nach Europa gelangte und dort zum integralen Bestandteil des Flamenco, der Musik der andalusischen Roma wurde. Und natürlich die allerkreativste kulturelle Aneignung, nämlich wie Bewohner*innen der Armenviertel von Port oft Spain, der Hauptstadt von Trinidad & Tobago, aus europäischem Schrott, und zwar aus ausrangierten Ölfässern, die Steelpan, das vielleicht wohlklingendste Instrument der jüngeren Musikgeschichte machten.
Also zum Jahresende ein ila-Schwerpunkt, in dem ganz viele und besondere Geschichten von menschlicher Kreativität und produktivem kulturellen Austausch über Kontinente hinweg erzählt werden. Deren Zusammenzustellung hat uns sehr viel Spaß gemacht und den wünschen wir auch unseren Leser*innen. Ein besonderes Highlight dabei ist, dass jede*r Autor*in eine andere Perspektive zur Grundlage ihres/seines Beitrags machte: die historische, die kulturelle, die musikalische, die soziologische… Spannend! In diesem Sinne natürlich ein entspanntes Jahresende. Bleibt gesund!
P.S. Mit dieser Ausgabe verabschieden wir uns wieder in die Winterpause, die nächste ila erscheint Mitte Februar. Leicht verschämt, aber durchaus mit Nachdruck, möchten wir noch erwähnen, dass dieser ila, wie immer im November und Dezember, unser jährlicher Brief mit der Bitte um Unterstützung beiliegt.