Durch Reiseromane wie „In Patagonien“ von Bruce Chatwin und „Der alte Patagonien-Express“ von Paul Theroux ist der Süden Argentiniens und Chiles zu einem internationalen Sehnsuchtsort geworden. Vor allem Bewohner*innen metropolitaner Ballungsräume faszinierten die Bilder karger, menschenleerer Landschaften, imposanter Berge, nahezu unberührt wirkender Seen und Fjorde, aber auch verlassener Orte und Stein gewordener Zeugnisse von (europäischem) Pioniergeist.
In einer zweiten Phase begeisterte sich eine neue Generation europäischer, aber auch argentinischer und chilenischer urbaner Mittelständler*innen für die „authentische“ Kultur dieser Regionen, nämlich die der indigenen Völker, vor allem der Mapuche. Diese neue Wahrnehmung erkannte dann auch die Bedrohung dieser Lebensweise durch die kapitalistische Verwertungslogik und die aus ihr erwachsenen Großprojekte und solidarisierte sich – zumindest in Teilen – mit den Kämpfen der Mapuche zur Verteidigung und Wiedererlangung ihrer Territorien. So wurde auch die Verfolgung der um ihre Rechte kämpfenden Mapuche durch argentinische und chilenische Sicherheitskräfte registriert und dafür gesorgt, dass diese international immer mehr zur Kenntnis genommen wird.
Allen Beschäftigungen mit dem Phänomen Patagonien ist ein gehöriges Maß an Projektion inhärent, die bestimmte Aspekte der patagonischen Realität fokussiert und andere ausblendet. So kommen etwa die Chilen*innen und Argentinier*innen, die im gesamten 20. Jahrhundert auf der Suche nach besseren Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten in den Süden ihrer Länder gezogen sind und heute die Mehrheit der dort lebenden Bevölkerung bilden, in der Betrachtung Patagoniens fast nie vor. Dabei kämpfen auch sie mit großem Engagement für ihren Traum von einem besseren Leben – und zwar nicht, wie einst die europäischen Migrant*innen, gegen renitente Indigene, sondern gegen die nationalen und internationalen Machtgruppen und Unternehmen, die die Natur, das Wasser und sogar den Wind Patagoniens in Wert setzen wollen und denen die Leute, Indigene wie Weiße, die dort leben, total egal sind.
Anfang der siebziger Jahre veröffentlichte der anarchistische Historiker und Schriftsteller Osvaldo Bayer sein für die argentinische Gesellschaft und besonders für deren Geschichtsschreibung zentrales Werk: „La Patagonia Rebelde“. Darin geht es um die blutige Niederschlagung eines Generalstreiks der überwiegend ländlichen Arbeiter (es waren vor allem Männer) Patagoniens im Jahr 1921. Es ist eine Geschichte von sozialen Träumen und deren brutaler Zerstörung. Doch die Träume leben weiter und diejenigen, die sie mit Gewalt auslöschen wollten, ebenso. Letztere sind sogar die, die bis heute in Argentinien die politische, wirtschaftliche und militärische Macht ausüben. So war es kein Zufall, dass „La Patagonia Rebelde“, eigentlich ein historisches Werk über einen lange zurückliegenden Konflikt, während der zivil-militärischen Diktatur der Jahre 1976 bis 1983 in Argentinien verboten war. Der auf Grundlage des Buches entstandene Film durfte sogar bereits ab 1974, also noch in der Regierungszeit Isabel Peróns, nicht gezeigt werden.
Auch heute ist, besonders in Argentinien, wieder vom rebellischen Patagonien die Rede, wenn von den dortigen Kämpfen, den besetzten Betrieben und den breit getragenen Bewegungen gegen Extraktivismus und Umweltzerstörung berichtet wird. Dieser Widerstand kennt keine nationalen Grenzen. Für die Indigenen des Südens war ihr Lebensraum immer auf beiden Seiten der Anden. Dieselben Bevölkerungsgruppen lebten sowohl im heutigen Chile wie im heutigen Argentinien und standen im regelmäßigen Austausch miteinander.
Erst seit der in Kriegsfeldzügen gegen die Indigenen durchgesetzten Einverleibung der südlichen Regionen in die Nationen Argentinien und Chile ist von nationalen Territorien die Rede. Es sind besonders die Militärs, die deren Verteidigung zur heiligen nationalen Aufgabe stilisieren und deren Bedrohung durch die Streitkräfte des jeweils anderen Landes imaginieren. Doch das erwähnte Buch „La Patagonia Rebelde“ zeigte klipp und klar, dass die Region niemals „national“ war. Der große Streik von 1921 fand in Argentinien statt. Die, die ihn brutal niederschlugen, waren argentinische Militärs. Aber die große Mehrheit der Streikenden und der 1500 Ermordeten waren Chilenen – und eingewanderte Arbeiter aus Galizien, Andalusien, Deutschland und Russland.
Gute Gründe also, dass wir uns in unserem – nach den Anden und Amazonien – dritten Regionalschwerpunkt Patagonien widmen. Bei den Recherchen dazu haben wir viel gelernt und hoffen, dass es unseren Leser*innen genauso geht.