„Ihr lasst echt nix Sperriges aus“, meinte ein Freund der ila durchaus anerkennend, nachdem er die letzte ila mit dem Schwerpunkt „Philosophie“ erhalten hatte. Recht hat er, aber auch auf den ersten Blick „Sperriges“ kann spannend sein. Schließlich enthüllt manches erst seine Bedeutung und politische Brisanz, wenn man etwas mehr darüber erfährt.
So auch das Thema der vorliegenden Ausgabe: „Verfassunggebende Versammlungen“. Wenig aufregend? Hierzulande vielleicht. Doch in nahezu allen großen politischen Mobilisierungen der letzten Jahrzehnte in Lateinamerika, angefangen von der Massenbewegung für direkte Wahlen und ein Ende der Militärdiktatur in Brasilien in den achtziger Jahren über die indigenen Aufstände nach 1990 in Ecuador und dem „Wasser- und Gaskrieg“ zu Beginn des neuen Jahrhunderts in Bolivien bis zu den großen Demonstrationen 2019/20 in Chile oder der Bewegung gegen die korrupten politischen Eliten 2020 in Peru, wurde immer prominent und lautstark die Forderung nach einer neuen Verfassung und der Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung erhoben.
Warum? Alberto Acosta, 2006/2007 Präsident der Verfassunggebenden Versammlung Ecuadors, meint in einem Interview in dieser ila: „Die Leute glauben, dass eine Neugründung des Staates Abhilfe schafft, also eine neue Verfassung her muss, wenn die Probleme (allzu) groß werden.“
Bei den Forderungen nach einer „ Constituinte“ (portugiesisch) beziehungsweise „Constituyente“ (spanisch) geht es also um nicht mehr und nicht weniger als den Wunsch vieler Menschen nach einer Neugründung des Staates, einem neuen Gesellschaftsvertrag, der die Macht der alten politischen und ökonomischen Eliten bricht, politische Entscheidungsprozesse transparenter macht und die Rechte der Personen und Gruppen schützt, die in den politischen Institutionen bis dahin kaum repräsentiert sind und deren Interessen entsprechend wenig oder gar nicht berücksichtigt werden. Genau das bestätigen in dieser ila die Menschen in den Interviews und Gesprächen, die an Verfassungsprozessen beteiligt waren/sind.
Was dann am Ende in einer neu ausgearbeiteten und breit diskutierten Verfassung steht, ist das eine. Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist das andere. In einer Verfassung können alle politischen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Rechte vorbildlich festgeschrieben sein. Wenn Sicherheitskräfte, Behörden und staatliche Institutionen sie nicht respektieren und umsetzen, nützt das nichts.
Aber wer führt die Kämpfe darum, dass aus den Paragraphen Wirklichkeit wird? Sicher, gute Verfassungen geben all jenen, die für Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, politische Partizipation, die Rechte der Natur und gegen Ausgrenzung kämpfen, starke Argumente in die Hand. Genau deshalb mobilisieren rechte Kräfte, wie aktuell in Chile, gegen progressive Verfassungsprozesse. Denn wenn etwas festgeschrieben ist, werden die Menschen es auch einfordern.
Nicht nur in Lateinamerika: Wenn die Leute in Deutschland bei Umfragen angeben sollen, zu welchen politischen Institutionen sie Vertrauen haben, landet das Bundesverfassungsgericht regelmäßig ganz weit vorne. Das heißt, die meisten Leute vertrauen einer Institution, deren Aufgabe es ist, darüber zu wachen, dass die Verfassung respektiert wird, mehr als den Politiker*innen, die sie selbst gewählt haben (warum haben sie sie dann eigentlich gewählt?). Kritisch zu hinterfragen ist dabei auch, dass die Vertreter*innen der Judikative ebenfalls Menschen mit politischen Hintergründen sind. Ihre gerichtlichen Entscheidungen können deshalb eine wirkliche Kontrolle der Exekutive bedeuten, aber gleichfalls auch den Missbrauch und die Ausweitung von Macht durch die Herrschenden legitimieren.