Seit einem Jahrhundert spielt das Medium Radio in Lateinamerika eine wichtige, zum Teil ganz andere Rolle als in Europa. So ist es etwa auf dem Land oder in entlegenen Regionen häufig eines der wenigen Kommunikationsmittel, die informieren und vernetzen oder auch zugänglich für Menschen sind, die nicht gut Spanisch lesen können. Auch als Bildungsmedium werden Radiosendungen in Lateinamerika eingesetzt.
In Lateinamerika gibt es über 25 000 Radiosender, mehrere Tausend davon sind Teil des sogenannten dritten Sektors (neben staatlichen und kommerziellen Radios): Radios Comunitarias. Diese Community-Radios wollen die übliche Trennung zwischen Sender und Empfänger aufbrechen, die Positionen vermischen und austauschbar machen. Es geht ihnen um die aktive Einbindung der Bevölkerung und somit um eine Demokratisierung der Gesellschaft. An lateinamerikanischen Universitäten gibt es folgerichtig den Studiengang, der junge Menschen zu comunicadores sociales ausbildet, also für die Medienarbeit an der Basis.
Im Community-Radio sind Geschichten über die Erfahrungen in den jeweiligen Territorien zu hören, Aktivitäten der sozialen Bewegungen finden hier ein Forum, und Empowerment wird großgeschrieben. Da in Lateinamerika die Massenmedien in wenigen Händen konzentriert sind, bilden Radios Comunitarias neben staatlichen und privaten Kanälen eine wichtige,
dritte Säule. Häufig müssen jedoch diese selbstorganisierten Projekte um Finanzierung und Lizenzen kämpfen, mitunter werden sie auch staatlich verfolgt oder gar verboten.
In manchen Guerillaorganisationen haben Radios eine wichtige Rolle gespielt, wie etwa in El Salvador die Sender „Radio Farabundo Martí“ und „Radio Venceremos“. Die Informationen dieser klandestinen Radios in dem mittelamerikanischen Land waren glaubwürdiger als die der Regierung und wurden von Presseorganen in anderen Ländern übernommen. In Uruguay gründete die ehemalige Guerilla MLN-Tupamaros nach der Rückkehr zur Demokratie „Radio Panamericana“, das eine wichtige Rolle für die Mobilisierung in Kämpfen von Arbeiter*innen und sozialen Bewegungen gespielt hat. In Buenos Aires hat sich „FM La Tribu“ vom kleinen selbstorganisierten und verfolgten Projekt zum wichtigen Kultur- und Politiksender der Hauptstadt gemausert. In Bolivien sendet die streitbare Feministin María Galindo mit „Radio Deseo“ seit zehn Jahren übers Internet, schafft es, ranghohe Politiker*innen in ihre Sendungen zu lotsen und erreicht damit auch ein Publikum jenseits des Atlantiks.
Der aktuelle Boom von Podcasts, spätestens seit Ausbruch der Covid 19-Pandemie, findet auch in Lateinamerika statt. Bietet dies eine Chance für die passionierten Radiomacher*innen, damit einen weiteren Kanal zu bespielen, oder sind auch hier zu viele kommerzielle, finanzkräftige Player am Start, die in der Aufmerksamkeitsökonomie am längeren Hebel sitzen?
Unser aktueller Schwerpunkt nimmt die Audiokulturen in Lateinamerika unter die Lupe, will ihre Geschichte und Entwicklung erklären sowie Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu Radios und Podcasts hierzulande aufzeigen. Vor allem wollen wir zeigen, wie viel Medien- und Demokratiekompetenz, Begeisterung und kollektives Organisierungspotenzial in den lateinamerikanischen Basisradios versammelt ist.
Mit der vorliegenden Nummer verabschieden wir uns in die lang ersehnte Sommerpause. Wir wünschen allen Leser*innen eine erholsame Zeit!