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Das Szenario ähnelt dem vor den US-Wahlen am 3. November 2020. Auf der einen Seite ein rechtsextremer, unberechenbarer Amtsinhaber, auf der anderen Seite ein in die Jahre gekommener solider Demokrat, der eine Rückkehr zur Institutionalität, politische Stabilität und eine verlässliche Außenpolitik verspricht sowie einige sozial- und umweltpolitische Akzente setzen möchte. Nahezu alle linken und fortschrittlichen Kräfte unterstützen den alten Demokraten, obwohl viele von ihnen der Meinung sind, dass weitergehende und radikalere Reformen dringend erforderlich seien, um tatsächlich mit den alten Politikmustern und der zerstörerischen Art des Wirtschaftens im Land zu brechen.

Die Rede ist nicht mehr von den US-Wahlen 2020, sondern von den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Brasilien am 2. Oktober dieses Jahres. Statt Donald Trump und Joe Biden stehen sich dort der Amtsinhaber und Trump-Bewunderer Jair Bolsonaro und der ehemalige Präsident Luis Inácio Lula da Silva von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (PT) gegenüber. Es gibt noch zehn weitere Kandidat*innen, die aber allesamt keine Chancen haben.

Wie in den Vereinigten Staaten ist auch in Brasilien zu befürchten, dass der Amtsinhaber Bolsonaro seine nach aktuellen Prognosen relativ wahrscheinliche Wahlniederlage nicht akzeptieren wird und wie Trump seine rechts-extremen Anhänger*innen gegen einen vermeintlichen „Wahlbetrug“ mobilisieren wird. Während aber in den USA die Militärführung Donald Trump eher kritisch gegenüberstand, ist der ehemalige Offizier Bolsonaro der Mann der brasilianischen Militärs. Wenn er im Falle einer Wahlniederlage unverhohlen mit einem Putsch droht, ist die Gefahr sehr viel realer als in den USA.

Neben der Rolle des Militärs gibt es noch weitere Unterschiede zwischen den Wahlen in den USA und Brasilien. Während sich in den USA seit jeher zwei Parteien gegenüberstehen, sind in Brasilien mehr als 20 Parteien im Parlament vertreten. Obwohl sie allesamt wohlklingende Namen haben, die eine klare Programmatik vermuten lassen, sind die meisten ideologisch nebulöse Wahlvereine. In Brasilien gibt es normalerweise keine parteiinternen Debatten und Entscheidungen über die Aufstellung der Kandidat*innen, sondern es läuft in der Regel so, dass sich die traditionellen Berufspolitiker*innen jeweils Parteien suchen, die sie für ein Amt aufstellen. So tritt der bei den Wahlen 2018 Drittplatzierte, wie Lula dem sozialdemokratischen Lager zugerechnete Ciro Gomes bereits für die siebte Partei im Laufe seiner politische Karriere an, bei dieser Wahl für die „Demokratische Arbeiterpartei“ (PDT), 2018 war es noch die „Sozialistische Volkspartei“ (PPS). Auch Geraldo Alckmin, Lulas Kandidat für die Vizepräsidentschaft, ist schon für verschiedene Parteien in den Ring gestiegen. Diesmal für die „Sozialistische Partei Brasiliens“ (PSB). 2006 war er der Präsidentschaftskandidat der liberal-konservativen „Sozialdemokratischen Partei Brasiliens“ (PSDB) – übrigens gegen Lula.

Wir haben in dieser ila einiges Material darüber zusammengetragen, wie sich verschiedene Teile der brasilianischen Gesellschaft vor den Wahlen darstellen, was die Amtszeit Bolsonaros für sie bedeutet hat und was die dringendsten Probleme sind, mit denen sich die Bevölkerung des größten Landes Lateinamerikas aktuell konfrontiert sieht. Welche Perspektiven sich daraus für die nächste Zeit ergeben, werden die brasilianischen Wähler*innen am 2. Oktober und einer eventuellen Stichwahl am 30. Oktober entscheiden.

P.S. Am Ende des Layouts dieser ila erhielten wir die Nachricht vom Tod Hans-Christian Ströbeles, der am 29. August im Alter von 83 Jahren in Berlin starb. Er war über Jahrzehnte eine der wichtigsten Persönlichkeiten der Berliner und deutschen Linken. Ob als engagierter Anwalt in diversen politischen Prozessen, als Berater bei der Gründung der alternativen tageszeitung, als Treuhänder des Kontos „Waffen für El Salvador“ oder als langjähriger Bundestagsabgeordneter der Grünen. Er kämpfte immer vehement gegen staatliche Gewalt und stritt für die demokratischen Rechte aller Menschen, gerade auch die in den Haftanstalten und Abschiebeknästen. Dabei blieb er unbeirrbar, auch wenn er alles andere als ein Dogmatiker war. Für viele war er der letzte Linke bei den Grünen, die er kürzlich noch wegen ihrer neuen Kriegsbegeisterung heftig kritisiert hat. Er ist sich eben immer treu geblieben.