Ob bei der Abstimmung über das Friedensabkommen in Kolumbien, den brasilianischen Präsidentschaftswahlen, der Abstimmung zum neuen Verfassungsentwurf in Chile oder der Stimmungsmache gegen den Bericht der kolumbianischen Wahrheitskommission: Kein Thema kann so sehr spalten und für Verunsicherung sorgen wie das sogenannte „Gender-Thema“. Geschlechterbilder und -identitäten sind umkämpft, vieles ist in Bewegung gekommen, vorherrschende Männlichkeits(vor)bilder sind angekratzt. Gleichzeitig werden von kirchlichen, konservativen und rechten Bewegungen traditionelle Geschlechterbilder vehement verteidigt – man denke an die ehemalige brasilianische Familienministerin, die mit ihren Anhänger*innen frenetisch rief: „Jungen tragen blau, Mädchen tragen rosa!“ Und trotz der massiven feministischen Bewegungen auf den Straßen Lateinamerikas sinkt die Gewalt gegen Frauen und Queers nicht, sondern nimmt im Gegenteil immer erschütternde Dimensionen an.
In der ila beschäftigen wir uns immer wieder mit geschlechtsspezifischer Gewalt, Feminismus und LGBTIQ+-Bewegungen. Aber seit unserer „Männerbilder“-Ausgabe 2009 haben wir den Blick lange nicht mehr ausführlich auf die andere Seite der Medaille gerichtet. Wie steht es um Männlichkeit in Lateinamerika? Wie hat ein Mann heute zu sein? Was passiert, wenn Männer aufgrund von Rassismus und Klassenverhältnissen nicht in der Lage sind, die erwartete Männerrolle zu erfüllen? Wo bröckelt das Bild des Machos, und welche „neuen“, „kritischen“ und „kohäsiven“ Männlichkeiten entstehen in den Rissen des Alten?
Wir richten einen Blick auf die Frage danach, was Männlichkeit eigentlich bedeutet und warum Männerbünde so stabil sind. Philipp Wolfesberger scheint die These der Männersolidarität fragwürdig. Was die so unterschiedlichen Männlichkeiten im Kern zusammenhält, könne nichts anderes sein als die gemeinsame Unterdrückung der Frauen, argumentiert er. Denn die Solidarität ist jenseits des eigenen Männerbundes oft brüchig, wie die Diskriminierung und Ausbeutung venezolanischer Migranten in Ecuador zeigt. Das hegemoniale Bild des männlichen Versorgers zu erfüllen, wird so für viele Migranten zur Unmöglichkeit und kratzt am Selbstverständnis. Das Gefühl, nicht „Herr“ der Dinge sein zu können, führt allzu häufig zu Gewalt gegen Frauen.
Wir werfen Schlaglichter auf viele konkrete Männlichkeitsbeziehungen. Was macht es aus, das Mannsein im Alltag, Mannsein als Vater, als trans Person, als Liebender, als Sorgender, als Begehrender, als Migrant, als Arbeiter, als Indigener, als Schwarzer, als Fußballfan? Uns interessiert Männlichkeit im Alltag – Vaterschaft, Gesundheit – genauso wie Männlichkeit in Extremsituationen, etwa im bewaffneten Konflikt.Es ist eine Binsenweisheit, dass es in den westlichen Gesellschaften einen engen Zusammenhang zwischen kapitalistischen und patriarchalen Machtverhältnissen gibt. In Lateinamerika wird darüber hinaus über das Verhältnis von Kolonialismus und Patriarchat diskutiert. Ganz sicher sind die sichtbarsten Ausdrucksformen männlicher Vorherrschaft, wie der Machismo, durch den Kolonialismus geformt. Andererseits weisen Historiker*innen darauf hin, dass auch die Kulturen der Inka oder Azteken männlich-militaristisch geprägt waren. Aber es gibt in den indigenen Kulturen des Andenhochlandes auch das Prinzip des „Chacha Warmi“, das die Komplementarität von Mann und Frau betont. Auch wenn das unserer heutigen Infragestellung von festgelegten Geschlechterrollen widerspricht und es sicher auch in den andinen Kulturen patriarchale Vorherrschaft und Gewalt gibt, bedeutet das Prinzip des „Chacha Warmi“ eben keine Festschreibung männlicher Überlegenheit. Alle verehrten Revolutionsführer in Lateinamerika in den letzten Jahrhunderten waren Männer (wie auch der Herr auf unserem Titel). Dagegen wurden die großen indigenen Aufstände gegen die spanische Herrschaft, wie der von José Gabriel Túpac Amaru und Micaela Bastidas Puyucahua im heutigen Peru oder der von Túpac Katari und Bartolina Sisa im heutigen Bolivien von Paaren geführt. Sowohl die Männer als auch die Frauen haben ihren Platz in den Geschichtsbüchern und sind Namensgeber*innen für heutige soziale und politische Organisationen.
Damit sich aber Geschlechterverhältnisse ändern, braucht es keine herausragenden oder exotischen Gestalten, sondern Mehrheiten, die Geschlechterzuschreibungen nicht in gewalttätige „natürliche“ Hierarchien ummünzen. Das kann kapitalistische Herrschaftsverhältnisse nicht unberührt lassen.
P.S. Mit dieser Ausgabe verabschieden wir uns in die Winterpause. Die nächste ila erscheint wie üblich Mitte Februar. Wir wünschen allen Leser*innen angenehme Feiertage. Wenn die eine oder der andere Zeit findet, unseren beiliegenden Spendenbrief zu lesen und sich vielleicht zu einer finanziellen Unterstützung der ila entschließt, hilft uns das sehr. Von vielen linken Zeitschriftenprojekten hören wir, dass es in diesem Jahr deutlich mehr Abokündigungen gibt als üblich, was die ohnehin prekäre Finanzierungsbasis der meisten Projekte massiv gefährdet. Aber die ila war ja schon immer kontrazyklisch. Wer also ein Abo hat, soll gerne weitere Abonnent*innen werben.