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Was lieben wir Menschen mehr als alles andere auf der Welt? Die Antwort ist relativ einfach. Ja, wir leben im Kapitalismus mit seiner Objektfetischisierung, aber trotzdem lieben Menschen nichts mehr als: andere Menschen. Psychologische Studien belegen, dass Menschen nichts glücklicher macht, als andere Menschen zu sehen oder mit ihnen Zeit zu verbringen. Und deswegen verwundert es nicht, dass wir Historie als Aneinanderreihung von Heldengeschichten erzählen und die Gegenwart durch die Geschichten einzelner Protagonist*innen erfahren. Alle Medien haben Storytelling für sich entdeckt: Wir leiden und hoffen mit den Hauptfiguren und können dadurch im besten Fall gesellschaftliche und wirtschaftliche Zusammenhänge besser – und empathischer – einordnen. Im weniger guten Fall geraten die materiellen Grundlagen aus dem Blick, und wir schreiben Figuren der Historie eine Macht zu, die sie zu Lebzeiten nie hatten, oder schlachten in Klatschzeitschriften das Privatleben von Promis aus. Wir schauen in dieser Ausgabe der ila auf genau diese materiellen Grundlagen sowie die diskursiven Prozesse, durch die Helden zu Helden und Stars zu Stars werden.

Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein buntes Sammelsurium: Politiker*innen, Sänger, Fußballer, Influencerinnen. Aber alle haben sie etwas gemeinsam: Sie bewegen einen Kontinent. Menschen diskutieren über sie und ihr Leben, interpretieren ihre Geschichte(n), eignen sie sich an. Und: Die Grenzen zwischen Kultur, Sport und Politik verwischen vielleicht noch mehr als früher. Schauspieler*innen und Sportler*innen werden dank ihrer Berühmtheit zu einflussreichen Politikern, man denke an Ronald Reagan als US-Präsidenten, Arnold Schwarzenegger als kalifornischen Gouverneur, Wladimir Klitschko als Bürgermeister von Kiew, Wolodymyr Selenskyj als Präsidenten der Ukraine oder den Comedian Jimmy Morales als Präsidenten von Guatemala. Andersherum geben sich Politiker wie der salvadorianische Präsident Nayib Bukele als smarte Social Media Stars: „Der coolste Diktator der Welt“ lautete eine Zeitlang seine selbst geschriebene Kurzbio bei Twitter. Auch Evo Morales, Boliviens Ex-Präsident, hat längst die Macht der sozialen Medien erkannt und ließ ganze Trupps von „digitalen Kriegern“ für ein positives Medienimage sorgen. Allerdings ist es kein Phänomen des digitalen Zeitalters, dass Kulte um tote und lebendige Politiker*innen entstehen. „Evita“ Peróns Profil prangt noch heute überlebensgroß auf Hochhauswänden in Buenos Aires, und der ikonische Che Guevara hat es in Regenbogenedition nicht nur auf die ila 461 zu Männlichkeiten geschafft. Unsere aktuelle Ausgabe blickt aber auch darauf, welche – mehr oder weniger erfolgreichen – Strategien die Indigenenbewegungen des Kontinents haben, um der Bildung von Personenkult vorzubeugen.

In der Welt der Kunst wird Personenkult gleichzeitig zelebriert, kritisiert und parodiert. Was ein Aufschrei, als 2019 der mexikanische Künstler Fabián Cháirez den Helden der mexikanischen Revolution Emiliano Zapata als schwule Ikone inszenierte! Das Bild ist aktuell in der Ausstellung LOVE im Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum zu sehen, zusammen mit einer Videoperformance des ebenfalls mexikanischen Künstlers Javier Ocampo. Darin küsst er Denkmäler mexikanischer Volkshelden – alle männlich – innig auf den Mund. Für einige Mexikaner*innen ist diese queere Liebeserklärung eine Provokation, die die nationale Identität angreift. Hinter dieser und vielen anderen Geschichten, und damit hinter vielen geliebten und verehrten Persönlichkeiten, verbergen sich im Grunde gesellschaftliche Machtverhältnisse. Zugespitzt: patriarchale Strukturen, die Frauen auf die Rolle von Heiligen oder Huren festschreiben und die Geschichtsschreibung auf heterosexuelle Männer fokussieren (manchmal auch schwuler, deren Homosexualität dann aber tunlichst verschwiegen wird). Ein historischer Rassismus, der auch durch die langsam wachsende Präsenz berühmter und erfolgreicher Schwarzer kaum erschüttert wird,. Eine kapitalgeleitete Kulturindustrie, die die Gewalt des Drogenhandels, indigene Landkämpfe und Queerness gleichermaßen zu marktfähigen Produkten macht.

Die Kulissen sind also genau so spannend wie die Vorderbühne. Die hier vorgestellten sind einige der Personen, die zu Kultfiguren wurden, um die sich Mythen ranken und auf die sich Begehren richtet. Und hinter denen immer eine verzweigte Geschichte steckt.