Keine Revolte ohne Lieder! Musik pusht, Musik motiviert, Musik tröstet, Musik verbindet, Musik bringt es auf den Punkt. Jede politische Bewegung in Lateinamerika hatte und hat ihre Songs oder ihren spezifischen Soundtrack: In den 1970er-Jahren war es die Nueva Canción, das „neue Lied“, das mit Namen wie Violeta Parra, Víctor Jara, Inti Illimani, Daniel Viglietti, Mercedes Sosa, Alí Primera oder Susana Baca verbunden ist und heute noch zu berühren vermag. In den 80ern taten sich besonders die Lieder der Mittelamerikaner*innen, wie etwa Luis Enrique und Carlos Mejía Godoy, mit ihren politischen Statements hervor. Mit der Verbreitung des Hiphop ab den 90er-Jahren eigneten sich indigene und andere an den Rand gedrängte Gruppen ein wichtiges Werkzeug an, um ihre Stimmen hörbar zu machen. Die Ska-Mestizo-Musik der Nullerjahre brachte quer über den Kontinent neue Bands wie Karamelo Santo (Argentinien), Panteón Rococó (Mexiko) oder Dr. Krápula (Kolumbien) hervor, die sich von Anfang an mit ihren Texten und ihrer Beteiligung an Demos und Soli-Festivals klar positionierten. Im letzten Jahrzehnt schließlich wirbelte der feministische Reggaeton das althergebrachte Geschlechterverständnis durcheinander und begleitete machtvolle Bewegungen wie NiUnaMenos oder die Kampagne zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in Argentinien (siehe ila 416).
Die jüngsten Protestzyklen in verschiedenen Ländern Lateinamerikas haben ihren jeweiligen Soundtrack erschaffen: In Ecuador verwandeln Protestierende traditionelle andine Melodien fantasievoll in Protestgesänge. Im aufgewühlten politischen Szenario Perus sind unzählige Lieder entstanden, in denen Präsidentin Dina Boluarte, die mit heftiger und tödlicher Repression gegen die überwiegend indigene Protestbewegung vorgeht, mal als Mörderin („Dina asesina“) oder selbst als Ziel von Gewaltfantasien („Dina balearte“) dargestellt wird. Die musikalische Protestbewegung in Peru bedient sich verschiedener Genres, von Huayno über Rock bis Punk und Rap. Kritische Musiker*innen, wie etwa der Rapper Pedro Mo aus Lima, die in ihren Songs und auf der Straße die aktuellen Demos unterstützen, fallen dem „Terruqueo“ zum Opfer: Seit den 90er-Jahren wird, wer unbequeme Wahrheiten gegen Politik, Kapital oder Mainstream-Medien sagt, einfach als Terrorist diffamiert (obwohl es seit 1995 keine Guerilla mehr in Peru gibt). Für die Betroffenen lässt das häufig nur einen Ausweg zu: schleunigst das Land zu verlassen. Ins zeitweise Exil musste auch die bereits erwähnte kolumbianische Band Dr. Krápula, weil sie von Medien, Politik und Konzertagenturen boykottiert und totgeschwiegen wurde, nachdem sie sich prominent an der landesweiten Streikbewegung beteiligt hatte.
Protestmusik aus dem Exil heraus machen auch die meisten oppositionell eingestellten Musiker*innen aus Nicaragua, gezwungenermaßen, denn kaum jemand von ihnen konnte nach der Protestwelle vor fünf Jahren im Land bleiben. Eine spezielle, weil bei der US-amerikanischen Musikindustrie gern gesehene musikalische Opposition aus dem Exil wird von cubanischen Musiker*innen wie Yotuel Romero betrieben. Mit „Patria y Vida“ konnte er 2021 sogar einen weltweiten Hit landen und zwei Latin Grammies einstreichen.
Politische Musik trägt darüber hinaus zur Identitätsbildung bei, bewegt und bezaubert die Menschen auch in anderen Regionen der Welt, schweißt zusammen und kann für Solidarität sorgen. Und die ila-Redaktion beflügelt sie in ihrer Arbeit, wenn beim Schreiben, Redigieren, Übersetzen oder Layouten der passende Soundtrack im Hintergrund läuft. Wir wünschen auch unserem musikbegeisterten Publikum viele anregende musikalische Entdeckungen!