Vor genau 50 Jahren, am 11. September 1973, putschte das chilenische Militär gegen die Volksfrontregierung von Präsident Salvador Allende und die neuen Formen direkter Demokratie und autonomer Selbstverwaltung, die sich im Laufe der Jahre 1972/73 in Chile entwickelt hatten und immer mehr Betriebe, Wohnsiedlungen, Agrargenossenschaften sowie soziale und künstlerische Kollektive umfassten. Ausführende des Staatsstreichs waren die Streitkräfte unter ihrem Oberkommandanten Augusto Pinochet. Der Befehl zur Zerstörung des demokratischen und sozialen Umwälzungsprozesses kam freilich von den großen chilenischen Grundbesitzern, Bankiers und Unternehmerverbänden sowie der US-Regierung. Der Putsch, seine Choreografie und die auf ihn folgende blutige Repression gegen die Arbeiter*innen, bäuerlichen Aktivist*innen, Studierenden und kritischen Teile der Mittelschicht, die den Veränderungsprozess getragen hatten, wurden in Washington geplant.
Vor 50 Jahren war Lateinamerika vom Río Grande bis zur Südspitze von Feuerland noch unbestritten der Hinterhof der USA, die ihren Führungsanspruch immer wieder brachial durchsetzten. Lediglich einmal gelang das nicht, als sie nach 1959 vergeblich versuchten, das revolutionäre Cuba wieder auf ihre Linie zu bringen.
Sicher wird in vielen Medien an den 50. Jahrestag des Militärputsches in Chile erinnert, und es werden die Bilder vom September 1973, die die meisten, vor allem ältere, ila-Leser*innen kennen, wieder aus den Archiven geholt. Wir brechen dieses Mal mit dem auch von uns praktizierten Ritual, über Chile vor allem an den runden Jahrestagen des Staatsstreichs zu berichten. Wir haben dem Land vor drei Jahren (ila 435) einen großen Schwerpunkt gewidmet, in dem wir vor allem über die neuen radikalen Bewegungen berichtet haben.
In dieser ila gehen wir darauf ein, wie sich die politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse in und um Lateinamerika seit 1973 verändert haben. Die USA und ihre wirtschaftlichen Machtgruppen kontrollieren Lateinamerika längst nicht mehr unangefochten. China ist in nur einem Jahrzehnt zum zweitwichtigsten Handelspartner der Region geworden und baut seinen Einfluss über bilaterale Abkommen und großzügige Kredite aus. Mit der globalen „Belt and Road Initiative“, besser bekannt als Neue Seidenstraße, will China strategische Verkehrspunkte sowie relevante Wirtschaftszonen erschließen und an sich binden. 21 lateinamerikanische Staaten sind schon dabei. Hier löst aber nicht ein Hegemon den anderen ab. In letzter Zeit sehen die Prognosen zu Chinas wirtschaftlicher Entwicklung eher düster aus, sodass sich die Frage stellt, ob es die Strategie des massiven wirtschaftlichen Engagements in Lateinamerika aufrechterhalten kann. Außerdem bleiben trotz chinesischer Ambitionen die USA die unangefochtene Militärmacht. Ihren ungebrochenen Einfluss in den meisten lateinamerikanischen Ländern zeigt auch ihre repressive Migrationspolitik, bei der sie – analog zur EU – die Außengrenze immer weiter nach Süden verlagern und ihre Interessen bei den jeweiligen Regierungen der mittel- und sogar der südamerikanischen Länder durchzusetzen wissen. Die Autor*innen dieses Schwerpunkts sind sich uneins darüber, wie die gegenwärtigen Kräfteverschiebungen zu beurteilen sind: Hat der Einfluss Chinas den der USA tatsächlich nachhaltig geschwächt? Oder bleibt Lateinamerika trotz allem Hinterhof der Vereinigten Staaten? Welche Rolle spielen Russland und der Ukrainekrieg?
Und: Was bleibt Lateinamerika und der Karibik angesichts des wirtschaftlichen und geopolitischen Kräftemessens? Brasilien, als wichtigste regionale Macht in Lateinamerika, ist bestrebt, seinen internationalen Einfluss auszuweiten, etwa durch sein Engagement in den portugiesischsprachigen Ländern Afrikas oder sein Bestreben, einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu erlangen. Die gerade beschlossene BRICS-Erweiterung trägt dazu bei, Einflusssphären neu auszutarieren. Allerdings sehen wir kritisch, dass dadurch auch Länder an Einfluss (in Lateinamerika) gewinnen können, die mit nichtpatriarchalen Politiken wie auch Klima- und Umweltpolitik so gar nichts am Hut haben, ja politisch und wirtschaftlich das Gegenteil weltweit wollen. Gleichzeitig hat Brasilien die Agenda der regionalen Integration neu aufgelegt. Vor allem der Amazonasgipfel im August wird als wichtigste außenpolitische Initiative Brasiliens bezeichnet. Klar ist aber auch: Von einem progressiven Block sind die linken Regierungen Lateinamerikas aktuell weit entfernt, zu groß sind die Unterschiede zwischen einem Petro in Kolumbien und einem Lula in Brasilien. Die meisten Länder versuchen, den Streit der Großmächte um Einflusssphären und Ressourcen strategisch im Sinne ihrer eigenen Interessen zu nutzen und eine möglichst neutrale Distanz zu bewahren.
Für die sozialen Bewegungen in Lateinamerika ist das hingegen kein einfaches Szenario – und es ist auch kein einfaches Thema für die ila, die den Anspruch hat, die Gründe der Ungleichheiten zu benennen, aber auch nah an den Menschen zu berichten. Wir haben versucht, in diesem sehr theorielastigen Schwerpunkt trotzdem zu zeigen, was die Machtverschiebungen für den Alltag der Menschen bedeuten – und vor allem, wie sie sich wehren.