In den letzten Monaten wurde in drei Ländern Lateinamerikas gewählt – mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen. In Argentinien, wo noch nichts entschieden ist, droht weiter die Gefahr eines Sieges des rechtsextremen Trump-Klons Javier Milei. Der schnitt zwar in der ersten Runde deutlich schlechter ab als vorausgesagt und lag mit rund 30 Prozent sechs Prozent hinter dem liberalen Peronisten Sergio Massa. Doch für die entscheidende Stichwahl kann er auf die politische und finanzielle Unterstützung der traditionellen konservativen Kräfte Argentiniens zählen, die immer ein sehr instrumentelles Verhältnis zur Demokratie hatten. Seine Konkurrentin in der ersten Runde, Patricia Bullrich von der rechten Oppositionspartei „Juntos por el Cambio“, hat Ende Oktober Milei ihre Unterstützung für die Stichwahl zugesichert und damit einen Bruch in den eigenen Reihen provoziert. „Bullrich will Argentinien noch vor der Stichwahl explodieren lassen“, titelte die (regierungsnahe) Zeitung Página 12. Bleibt die schwache Hoffnung, dass die Mehrheit der Wähler*innen versteht, dass Milei nichts „Neues“ darstellt, sondern nur ein bestialisch laut kläffender Kettenhund der Oligarchie ist.
Hoffnungsvoll, aber gleichzeitig extrem bedroht, ist der politische Prozess in Guatemala. Mit dem Wahlsieg Bernardo Arévalos bieten sich dem geschundenen Land erstmals seit dem Militärputsch von 1954 positive Perspektiven. Dagegen kämpft der „Pakt der Korrupten“ aus Militärs, Unternehmensdynastien und der organisierten Kriminalität vehement, sehen sie doch ihr Geschäftsmodell bedroht.
Das muss die kleine weiße Elite Ecuadors nicht befürchten. Ihr Repräsentant Daniel Noboa hat die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen knapp gewonnen. Damit wird auch der Einfluss der Drogenkartelle weiter wachsen. Die konservativen Kräfte bemühen einmal mehr die Erzählung von einer Regierung, die ihr Möglichstes gebe, aber letztlich nicht die Mittel habe, der Gewalt der Narcos entgegenzutreten. Dass das Unsinn ist, hat kürzlich Jorge Díaz, der langjährige Generalstaatsanwalt Uruguays, deutlich gemacht. Es gebe keinen Drogenhandel ohne Korruption, also ohne die Beteiligung von zumindest Teilen der Eliten und des Staatsapparates. Das gilt auch für die Gewalt, die damit einhergeht. Darüber mehr im ausführlichen Dossier, das die ila und das Berliner „Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika“ (FDCL) in dieser Ausgabe zusammengestellt haben.
Editorial zum Dossier
„Tödlichste Region der Welt: Warum in Lateinamerika die Gewalt regiert“, titelt die FAZ 2022. Von der „gefährlichste(n) Region der Welt“ spricht auch die FR 2019. „Lateinamerika und Karibik sind die gefährlichsten Regionen für Frauen“, wusste der Spiegel bereits 2017.
Die Schlagzeilen geben treffend wieder, was in den Statistiken zu finden ist: In keiner Region außerhalb von Kriegsgebieten sterben mehr Menschen einen gewaltsamen Tod. Die Feminizidraten sind die höchsten weltweit, Migrant*innen sterben auf der Flucht, nirgends werden mehr Umwelt- und Menschenrechtsaktivist*innen, mehr Journalist*innen ermordet als in Lateinamerika. Weite Teile des Kontinents werden vom organisierten Verbrechen heimgesucht, das ganze Städte und Landstriche kontrolliert.
Die Vorstellungen eines Kontinents der Gewalt haben sich ins Gedächtnis eingegraben, sie werden befeuert von einer sensationalistischen Berichterstattung und aufwändig produzierten Netflixserien über Drogenkartelle und ihre Narco-Kultur; wir kennen die Bilder der marodierenden Jugendbanden aus Zentralamerika, die martialischen Polizeieinsätze in den Favelas von Brasilien. Für Zwischentöne bleibt nur wenig Platz. Die Probleme scheinen klar auf der Hand zu liegen.
Warum also ein Dossier über Gewalt? Wissen wir nicht schon alles darüber? Kennen wir nicht schon alle Geschichten? Wir denken nein. In der üblichen Berichterstattung werden viele wichtige Fragen nicht gestellt. Woher kommt und wem nützt diese Gewalt, die uns medial als scheinbar chaotisches Ereignis über alle Kanäle entgegen flimmert? Was übersehen wir womöglich, wenn wir der medialen Gewaltdarstellung kritiklos Glauben schenken? Was ist mit den (direkt) Betroffenen? Ertragen sie ergeben ihr Schicksal, oder haben sie Strategien entwickelt, um sich und andere zu ermächtigen?
Wir werden in dem Dossier keine abschließende Definition davon geben, was unter dem
facettenreichen Phänomen der Gewalt zu verstehen ist. Aber wir nähern uns einigen möglichen Erklärungen an, indem wir zunächst auf die mediale Darstellung von Gewalt und die Strukturen blicken. Anschließend fragen wir nach Erklärungsansätzen. So arbeitet die argentinisch-brasilianische Soziologin Rita Segato in ihrem Beitrag die Verbindungen zwischen kolonialer und patriarchaler Gewalt sowie zwischen Körper und Territorium heraus. Außerdem unternehmen wir den Versuch, darauf zu schauen, welche Antworten in der Region auf die allgegenwärtige Gewalt gesucht und gefunden werden. Einige dieser Ansätze kommen von „oben“, wie das Friedenskonzept vom „Paz total“ der kolumbianischen Regierung. In Kolumbien wird aktuell auch versucht, eine der Institutionen zu reformieren, die für das Gewaltmonopol des Staates zuständig ist: die für ihre Verstöße gegen die Menschenrechte in den letzten Jahren viel
kritisierte kolumbianische Polizei. Auch autoritäre Regierungen haben sich auf die Fahnen geschrieben, Gewalt in ihren Ländern zu beenden. Zu welchem Preis dies in El Salvador vorangetrieben wird, analysieren wir am Beispiel des „Modell Bukele“.
Den größten Teil des Dossiers wollten wir jedoch den Ansätzen von „unten“ einräumen, von sozialen Bewegungen oder direkt Betroffenen. Manche dieser Strategien gegen Gewalt sind umfassender als andere. Manche sind zu einem gewissen Grad erfolgreich, manche weniger. Alle brauchen einen langen Atem. Selbstorganisierung ist dabei ein Schlüsselelement, sei es bei den afro-honduranischen Garífuna und der Verteidigung ihrer Territorien oder bei der indigenen Gemeinschaftspolizei im mexikanischen Guerrero und ihrem Widerstand gegen die Organisierte Kriminalität.
Eine weitere Gemeinsamkeit, auf die wir immer wieder gestoßen sind: Die Gewaltverhältnisse, denen sich Kollektive, Initiativen, Bündnisse, Gemeinschaften, kulturelle Zentren etc. mit ihrer Arbeit an der Basis entgegenstellen, sind zutiefst patriarchal geprägt. Deshalb wenden sich einige der vorgestellten Beispiele explizit gegen patriarchale, sexualisierte Gewalt oder hegemoniale Männlichkeit. Was zu tun bleibt ist indessen, nicht nur einzelne Männer zu immunisieren, die das herrschende Männerbild nicht mitmachen (wollen), sondern die Gesellschaft als Ganzes auf ihre patriarchale Logik der Unterwerfung und Zerstörung abzuklopfen und deren Produktions- und Reproduktionsweise zu verändern. Das können einzelne Kollektive sicher nicht leisten.
Die meisten Ansätze zielen auf den Titel unseres Dossiers ab: Gewalt – überwinden. Eine kritisch-solidarische Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen halten wir für lohnenswert. Nicht nur im Hinblick auf die Verhältnisse in Lateinamerika, sondern auch auf die verrohten derzeitigen Verhältnisse hierzulande. Verhältnisse, die dadurch geprägt sind, dass dem menschenverachtenden Diskurs rechter und konservativer Parteien nichts entgegengesetzt wird, sondern der Kanzler von „Abschiebung im großen Stil“ schwadroniert und die EU durch Zäune und Lager in Nordafrika das Recht auf Asyl für Geflüchtete immer weiter aushebelt. So stoppt man nicht, so stärkt man die Vertreter*innen von Unterwerfung und Zerstörung. Entschlossener Widerstand gegen diese Diskurse und Maßnahmen, die Nährboden und Legitimation für neue Gewalt darstellen, ist auch hier dringend vonnöten.