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Kein Protest ohne Lieder, schrieben wir im Editorial zur ila 466, dem Soundtrack zur Revolte. Und kein Aufstand ohne Poesie, haben wir während der Arbeit an der aktuellen Ausgabe gelernt. In Peru gehen die Menschen seit genau einem Jahr auf die Straße. Sie protestieren gegen die historische Unterdrückung der indigenen Bevölkerung im südlichen Andenhochland, gegen eine politische Klasse, die als korrupt und elitär wahrgenommen wird, gegen die brutale Repression durch das Übergangsregime von „Dina Asesina“ (Dina Boluarte – Mörderin). Während mindestens 49 Menschen durch Kugeln und Bomben des Staatsapparats starben (insgesamt forderten die Proteste über 60 Tote), sind die Waffen des Widerstands Vers und Wut. Das schreibt die Awajún Dichterin Dina Ananco in der Zeitschrift „Quantu y Barricada“, die die lyrischen Stimmen des Widerstands versammelt. Die erste Ausgabe erschien im Sommer, die zweite soll pünktlich zum ersten Jahrestag der Proteste herauskommen.

In lateinamerikanischen Widerstandsbewegungen hat Poesie schon immer eine große Rolle gespielt: vom cubanischen Unabhängigkeitskämpfer José Martí über den Befreiungstheologen Ernesto Cardenal bis zur feministischen Autorin Gioconda Belli. Wir haben uns gefragt: Welche Namen, Parolen und Poeme begleiten heute die politischen Umstürze, den Kampf gegen sexistische Gewalt, die Forderung nach einem würdigen Leben für Schwarze Menschen, den Widerstand gegen Ressourcenraub? Und welche Funktion hat Lyrik darüber hinaus in der Gesellschaft? Wenn wir uns umschauen, begegnet sie uns in den Hörsälen der großen Universitäten und in eingestaubten Bücherregalen, aber auch in der Werbung, auf Instagram und beim Rap-Battle in einem Park von Mexiko-Stadt. Die Dichter*innen nehmen nicht nur auf, was sie sehen, hören und erleben, sondern wirken auch in die Bewegungen hinein. So wie die Poetin und Feministin Susana Chávez Castillo, der der Satz „Ni una menos, ni una muerta más“ (Keine weniger, keine Tote mehr) zugeschrieben wird. Chávez Castillo wurde 2011 brutal ermordet. Ihr poetischer Satz prägt eine ganze Bewegung. Bis heute.

Poesie ist auch Analyseinstrument. Die Salvadorianerin Miroslava Rosales etwa nutzt ihre harte
poetische Sprache, um die politische Gewalt in ihrem Heimatland zu sezieren. Und LGBTI-Poet*in und Performance-Künstler*in Andrea Alejandro Freire (Drejanx) stellt das klassische Verständnis von Poesie gleich ganz auf den Kopf. Poesie sei eine Art, die Dinge zu sehen und zu tun. Poesie steckt nicht nur in Andrea Alejandros Gedichten, sondern auch in Briefen, Fotos, Performance-Kunst und in der Bewegung des Körpers. Denn die Ideen, sagt Andrea Alejandro, sind nicht unabhängig vom Körper, der sie ersinnt. Viele der Dichter*innen, die wir vorstellen, erleben, dass ihre Körper tagtäglich transfeindlich oder rassistisch diskriminiert werden. Viele machen Poesie ohne Ressourcen. Schließlich macht das die Poesie auch aus: Sie ist eine der erschwinglichsten Kunstformen. Um zu dichten, braucht es keine teure Ausrüstung wie beim Zeichnen oder Filmemachen.

Um gute Texte zu schreiben zum Glück auch nicht, deswegen können wir die ila seit 47 Jahren machen, wie wir sie machen: mit engagierten Autor*innen, eingebunden in soziale Bewegungen und mit wenig Kohle. Ganz ohne Ressourcen geht es aber nicht, und im Moment ist die Lage ziemlich dramatisch. Deswegen findet ihr auch in dieser Ausgabe unseren alljährlichen Klassiker, den Bettelbrief. Wir wollen uns weiter unsere mauen Gehälter bezahlen und unserer Website ein Glow-Up verpassen. Wie das alles gehen soll ohne Gert? Gute Frage. Wir haben es schon länger angekündigt, und jetzt ist es soweit. Unser langjähriger Redakteur Gert Eisenbürger geht in den wohlverdienten Ruhestand. Die wandelnde Wikipedia, das historische Gedächtnis, die gute Seele der ila, Gert ist alles auf einmal. Gut, dass er als Rentner weiter in der Redaktion mitmachen will. Und damit Britt und Mirjana euch bis zu ihrer Rente erhalten bleiben: Verschenkt ein Geschenkabo zu Weihnachten oder steckt uns was in unseren Nikolausstiefel, wenn ihr könnt! Mit liebem Dank und solidarischen Grüßen verabschieden wir uns in die Winterpause. Wir lesen uns im Februar wieder!