Wie migrantisch ist der Kölner Karneval? Das war die zentrale Frage auf einer Podiumsdiskussion im Januar, organisiert vom Verein „Globale Musik Köln“. Das Podium ist sich einig, dass der Karneval, vor allem der offizielle Sitzungs- und Veranstaltungskarneval, ziemlich deutsch und weiß ist. Lediglich Ausnahmeprojekte wie die „Immi-Sitzung“ oder die Humba-Party, die gelungen kölsch-internationale Musik auf die Bühne bringt, bieten migrantischen Akteur*innen und Themen eine Bühne. Die Kölner Pädagogin und Projektleiterin Glenda Obermuller (geboren in Guyana), macht deutlich, warum sie sich im Kölner Karneval weder wohl noch willkommen fühle: Als Frau mit indigenen und Schwarzen Wurzeln habe sie zu viele negative Erfahrungen gemacht. Außerdem finde sie Verkleidungen als „Indianer“ oder „Schwarze“ rassistisch und respektlos. Leider nimmt niemand auf dem Podium die Kritik ernst. Der eine relativiert mit Eigenempirie („Als ich mal komplett schwarz gekleidet und angemalt auf einer Karnevalsparty war, begrüßte mich der afrikanische Türsteher mit „Hi Brother“), der andere rühmt die Kölner Toleranz und Offenheit, eine weitere Diskutantin mit Migrationsgeschichte schließlich meint, Migrant*innen müssten sich ein bisschen anstrengen und integrieren, dann wäre alles paletti. Peinlicher Tiefpunkt des Abends: Eine Frau stürmt zur Bühne. Mit tränenerstickter Stimme verteidigt sie ihre Liebe zum Indianerkostüm, immerhin habe sie sich ausgiebig „mit dieser Kultur“ befasst.
Ursprünglich war geplant, auf Grundlage dieser Veranstaltung einen Beitrag für den aktuellen Schwerpunkt zu verfassen, der die Brücke zwischen hiesigem Karneval und Diasporaerfahrungen schlägt. Doch angesichts der geschilderten Peinlichkeiten war das Thema gestrichen. Übrig blieb nur diese traurige Episode.
Dabei ist Karneval eine Tradition mit rebellischem Potenzial. Die Verkehrung der Machtverhältnisse ist geradezu Programm. Auch wenn diese Verkehrung wirkungsvolles Rezept ist, für den Rest des Jahres untertänige Rollen klaglos akzeptiert zu wissen. „Karneval und Kampf sind Geschwister“, sagt der afrobrasilianische Regisseur Alex Mello.
Derzeit gehen Menschen auch aus ganz anderen Gründen auf die Straße: in Argentinien gegen die entsetzliche Regierung Milei, in Deutschland erstmals auch bürgerliches Milieu gegen den ebenfalls entsetzlichen Anstieg des Rechtsextremismus. An manchen Orten, wie im peruanischen Juliaca, nutzen Karnevalsgruppen die Bühne, um gegen die Morde durch staatlich verordnete Polizeigewalt zu protestieren.
Gleichzeitig, heißt es in einem Beitrag in dieser ila, ist die Geschichte des Karnevals stets eine Geschichte von dessen Domestizierung – in Brasilien ebenso wie in Cuba, Peru oder im Rheinland. Dass die Massen sich verkleiden, Konventionen ein paar Tage außer Kraft setzen sowie Geschlechter- und Machtverhältnisse spielerisch umkehren, hat weltliche und geistliche Autoritäten schon immer beunruhigt und nach Verboten oder strenger Reglementierung rufen lassen. Diejenigen, die Karneval feiern wollten, versuchten ihre Freiräume zu verteidigen und nahmen in Kauf, dass den Eliten genehme Akteur*innen die Organisation und Kontrolle der Feste übernahmen und wildes Treiben auf den Straßen in „geordnete“ Umzüge kanalisiert wurde. Das machte den Karneval für die Mächtigen akzeptabel. Nicht nur das: Sie nutz(t)en ihn auch zur Selbstdarstellung und Werbung. Außerdem sind die Feierlichkeiten in den Karnevalshochburgen der Welt mittlerweile ein Riesengeschäft. Aber auch vielen Familien bieten sie eine Lebensgrundlage, sei es in Montevideo, Barranquilla oder Rio de Janeiro.
Eine typische Eigenschaft des Karnevals besteht darin, dass er mit der Zeit geht und sich gemäß der Dynamik seiner Akteur*innen immer wieder neu erfindet. In Lateinamerika ist der Karneval vor allem dort bedeutsam, wo afrikanische oder indigene Festtraditionen mit katholischen Feiertagen zusammenfallen. Ist der Karneval katholisch, ein letzter Fleischgenuss (im weitesten Sinne) vor der Fastenzeit? Oder ist er heidnisch, das Feiern der Fruchtbarkeit? Findet er im Frühling oder zur Erntezeit statt? Wer hat ihn erfunden? Wie sieht es mit kultureller Aneignung aus? Und wie mit Rassismus? Diese Fragen ergründen wir im vorliegenden Schwerpunkt.
Zur Vorbereitung hatten wir uns in den vor 28 Jahren erschienenen ersten ila-Schwerpunkt zum Thema Karneval eingelesen (stolze 54 Seiten dick!) und waren von uns selbst beeindruckt. Sicher, Eigenlob stinkt, aber das hat uns angespornt, ein PDF dieser ila-Nummer 192 zu erstellen, damit sie kostenlos online auf www.ila-web.de zugänglich ist. Dort gibt es vor allem viele historische Beiträge zu lesen sowie Artikel mit kuriosen zeithistorischen Bezügen.
Ein weiterer Bonustrack: Obwohl keine Musiknummer im engeren Sinne, hat sich wieder einmal eine Playlist angeboten, online mit den entsprechenden Links.