Am 27. November lauschten wir gebannt den Nachrichten: Putschversuch in Venezuela, dem Land, dem wir den letzten Schwerpunkt gewidmet und dessen zunehmende politische und ökonomische Zerrüttung die AutorInnen der Nummer ausführlich dargestellt und analysiert hatten. Noch am Abend des gleichen Tages hieß es: alles wieder unter Kontrolle der mehrheitlich gehaßten Regierung. Stellten die offensichtlich in weiten Teilen der Bevölkerung populären Putschisten eine wirkliche Alternative dar? Die Frage ist von hier aus schwer zu beantworten, im Lande selbst wahrscheinlich auch, aber Zweifel sind angebracht. Hoffnungslosigkeit wird sich aber nun, im Angesicht von über 100 Toten, 1000 Inhaftierten, Hunderten von Verletzten und einer außer Kraft gesetzten Verfassung, noch weiter ausbreiten.
Ein rapider Popularitäts- und Vertrauensverlust der gewählten Regierung ist auch in Nicaragua zu beobachten. Nicaragua hat sich verändert seit der Wahlniederlage der Sandinisten im Februar 1990. Vieles ist schlechter geworden in dem Land, das in den achtziger Jahren für die europäische Linke von Autonomen bis SozialdemokratInnen ein Hoffnungsschimmer war. Seitdem haben sich viele ehemals Solidaritätsbewegte von Nicaragua abgewendet, die Solidaritätsbewegung ist kleiner geworden, wenngleich sich nach wie vor viele Menschen darin engagieren.
Nicaragua hat heute nicht mehr den Symbolcharakter von einst und taugt nicht mehr ohne weiteres als Projektionsfläche für unerfüllte Träume und Hoffnungen. Aber wir sind der Meinung, daß dort immer noch Wichtiges passiert; Exemplarisches und im Guten wie im Schlechten: Richtungweisendes. Zum Beispiel haben deutsche Gewerkschaften keine 25% Eigentumsanteil für ArbeiterInnen bei der Privatisierung von Staatsbetrieben ausgehandelt. die auf dem Gebiete der Ex-DDR wie in Nicaragua ablaufen. Ex-VEBs werden selten zu GenossInnenschaften, aber APPs (Area de Propiedad del Pueblo – staatseigene Betriebe in Nicaragua, die jetzt privatisiert werden) werden zumindestens teilweise zu APTs (Area de Propiedad de los Trabajadores – ArbeiterInneneigene Betriebe in Selbstverwaltung). Unter diesem Aspekt erscheinen die Kämpfe der ArbeiterInnen und der Bauern und Bäuerinnen in Nicaragua beinahe erfolgreicher als in der neuBRD.
Neue Strukturen der Selbstverwaltung entstehen, alte Fehler werden endlich Diskussionsgegenstand. Während Basisbewegungen der FSLN (Gewerkschaften, Frauen, Studierende usw.) immer mehr an Gewicht gewinnen und teilweise zerfallene Strukturen im Gesundheits- und Bildungssektor übernehmen, steckt die Führung der FSLN in verschiedenen Zwickmühlen. Die Parlamentsfraktion taktiert mit dem gemäßigten Teil der UNO-Regierungskoalition, um Schlimmeres von Seiten der Ultrarechten zu verhindern und um die ohnehin steigende Gewaltspirale im Land nicht noch weiter ansteigen zu lassen, was allerdings bei all den schon geschlossenen Kompromissen zu einer fragwürdigen Taktik wird. Gleichzeitig mangelt es an Oppositionsarbeit und klarer Abgrenzung zur Regierung, Alternativen zur neoliberalen Regierungspolitik und an innerparteilicher Diskussion, wie Silvio Prado im hier abgedruckten Gespräch ausführlich darstellt.
Im Negativen ist Nicaragua beispielhaft dafür, was passiert, wenn der „capitalismo libre“ über eine bisher mehr oder weniger geschützte Wirtschaft hereinbricht (gebrochen wird), wie wenig die Strukturanpassungen à la IWF und Weltbank den Menschen nützen und wieviel sie ihnen schaden.
Dennoch: Die Revolution bleibt. Zehn Jahre haben auch ein Bewußtsein in der Bevölkerung geschaffen, was sich heute in den Kämpfen manifestiert und zum Glück offensichtlich nicht so schnell kleinzukriegen ist.