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Um der Dritten Welt wirksam zu helfen, müssten die Industriestaaten ihre Märkte für Produkte aus dem Süden öffnen. Dies ist seit Jahr und Tag eine Standardpassage in den Sonntagsreden von EntwicklungspolitikerInnen aller Parteien. Auch die RepräsentantInnen großer Hilfswerke und Nichtregierungsorganisationen werden nicht müde, diese Forderung zu wiederholen, zuletzt anlässlich des G-8-Gipfels in Schottland. Und „unsere“ Handelspolitiker, die von den Staaten des Südens permanent die vollständige Öffnung ihrer Märkte für Waren und Dienstleistungen fordern, winken ihrerseits mit der Öffnung „unserer“ Märkte. Doch wem wäre damit wirklich geholfen? Derzeit erlebt Lateinamerika einen Sojaboom. Bei Europas und Nordamerikas Landwirten herrscht große Nachfrage nach Viehfutter auf Sojabasis. Die Weltmarktpreise sind hoch, die Geschäfte florieren. Weil mit Sojaexport gute Geschäfte zu machen sind, weiten die Sojaproduzenten die Anbauflächen kontinuierlich aus.

In Argentinien machte Soja 2003/2004 schon 54 Prozent der gesamten genutzten Ackerfläche aus. Doch auch im riesigen Argentinien ist das Agrarland nicht unendlich. Um mehr Soja anbauen zu können, werden immer mehr ökologisch wertvolle Wälder abgeholzt oder Menschen vertrieben, die auf den begehrten Flächen leben – oft schon seit Jahrzehnten – und dort die Nahrungsmittel anbauen, die sie und ihre Umgebung für das tägliche Leben brauchen. Das gilt nicht nur für Argentinien, sondern auch für Bolivien, Brasilien oder Paraguay. Und wo es nicht der Sojaanbau ist, da sind es die Rinder, die auf dem Land weiden sollen, wo Menschen ihre Lebensmittel produzieren. Im bolivianischen Tiefland wird von fünf Hektar Weideland pro Kuh ausgegangen, ein Terrain, von dem Boliviens Landlose und KleinbäuerInnen nur träumen können. Die Justiz ist meist auf Seiten der Großgrundbesitzer, und wenn korrupte Richter nicht genügen, um das Land zu räumen, kommen die von Landräubern angeheuerten paramilitärischen Kommandos, die mordend und brandschatzend durch die Ansiedlungen ziehen.

Überall in Lateinamerika gilt: Die moderne Exportlandwirtschaft hat Priorität. Sie bringt die Devisen, die das Agrobusiness verdienen will und die die Regierungen für den Schuldendienst benötigen. Im Jahr 2003 wurde ein Viertel des argentinischen Schuldendienstes aus den Exportsteuern auf Soja aufgebracht. Wenn die Interessen der internationalen Banken tangiert sind, wen interessieren da die Menschen, die Land für ihren Lebensunterhalt bebauen? Deshalb würde die weitere Öffnung der Märkte für Agrarprodukte aus dem Süden die Vertreibung von noch mehr Menschen von ihrem Land bedeuten. Soviel zu den entwicklungspolitischen Sonntagsreden!

Aber diejenigen, die vertrieben werden, setzen sich gegen die nationalen und internationalen Landräuber zur Wehr. Sie schließen sich zusammen und besetzen Land, um dort das anzubauen, was sie brauchen. Weil sie dabei organisiert vorgehen, gelingt es Großgrundbesitzern, Polizei und Justiz nicht so ohne weiteres, sie wieder zu verjagen. Jede Räumung droht zu einer Schlacht zu werden, die nationale und internationale Aufmerksamkeit erregt. Um die LandbesetzerInnen und ihre Anliegen zu diskreditieren, wird versucht, sie als Terroristen oder – vielleicht noch wirksamer – als Geschäftemacher abzuqualifizieren, die durch die Aktionen an Land kommen wollten, mit dem sie spekulieren könnten. Irgendwelche Beweise wird man dafür sicher vorlegen können, vor allem wenn man die agents provocateurs vorher selbst engagiert hat.

In einer Zeit, wo weltweit ein landwirtschaftliches Modell durchgesetzt werden soll, das allein an den Interessen des Agrobusiness ausgerichtet ist – ob die entsprechenden Flächen dann mit LandarbeiterInnen oder Maschinen bewirtschaftet werden, oder ob vermeintlich selbstständige Lohnbauern Soja oder Zucker im Auftrag der Konzerne anbauen, ist dabei nebensächlich –, sind die Landlosenbewegungen der Sand im Getriebe. Sie eignen sich an, was sie zum Leben brauchen, und setzen gleichzeitig die Forderung nach Demokratisierung des Landbesitzes auf die Tagesordnung.

Außer über die brasilianische Landlosenbewegung MST, der wir im Dezember 2002 einen Schwerpunkt gewidmet hatten, ist über die Bewegungen, die sich überall in Lateinamerika gegen Landraub und Vertreibung wehren, hierzulande sehr wenig bekannt. Das liegt teilweise daran, dass viele dieser Bewegungen nur regional agieren und keine Kapazitäten für internationale Arbeit haben, vor allem aber daran, dass sich die internationalen Medien nicht für sie interessieren. Es wird Zeit, das zu ändern!