Über Jahrhunderte war die in indigenen Kulturen und Gemeinschaften Lateinamerikas entstandene Literatur eine orale. Lieder, Mythen, Geschichte, Szenen, die in den Kulturen der Indígenas eine bedeutende Rolle spielten, wurden mündlich vorgetragen und weitergegeben. Die Übertragung von bis dahin mündlichen Traditionen oder neuer Texte in alphabetischen Umschriften der indigenen Sprachen begann mit der christlichen Missionierung und erst im 20. Jahrhundert sammelten städtische Schriftsteller wie zum Beispiel der Peruaner José Maria Arguedas und der Bolivianer Jesús Lara solche Texte und veröffentlichten sie erstmalig in Anthologien.

Seit einigen Jahrzehnten entsteht nun vielerorts in Lateinamerika eine schriftliche Literatur indigener AutorInnen, die ihre Gedichte und Prosatexte in Aymara, Guaraní, K’iche‘, Mapudungun, Maya, Nahuatl, Quechua, Tzotzil, Yukatekisch, Zapotekisch, Zoque und vielen anderen indigenen Sprachen verfassen. Diese AutorInnen haben wenig mit den traditionellen GeschichtenerzählerInnen gemein. Es sind junge, meist akademisch gebildete Indígenas, in deren persönlicher und politischer Sozialisation die indigenen Bewegungen, die in den letzten beiden Jahrzehnten in vielen Ländern Lateinamerikas die politische Agenda veränderten, eine bedeutende Rolle spielen.

In der hier vorliegenden ila geht es uns ausschließlich um die zeitgenössische indigene Lyrik und Prosa. Als solche spiegelt sie natürlich auch die Veränderungen der Lebensrealitäten und des politischen Selbstverständnisses der lateinamerikanischen Indígenas wider. Die Texte erscheinen in Zeitschriften, in (meist zweisprachigen) Buchausgaben und zunehmend auch im Internet. Daneben lebt aber auch der mündliche Vortrag fort, etwa auf den in Lateinamerika beliebten Poesiefestivals. Die meisten AutorInnen sind auch bei youtube hör- und sichtbar, in ihrer Originalsprache und auf Spanisch.

In unserer ersten Ausgabe zur indigenen Literatur wagen wir eine andere Herangehensweise als sonst bei ila-Schwerpukten. Die Idee der Arbeitsgruppe, die diesen Schwerpunkt konzipiert und betreut hat, besteht darin, dass außer einem Einleitungsteil nicht über indigene Autoren und Autorinnen geschrieben werden soll, sondern dass sich die SchriftstellerInnen in Essays und Interviews selbst zu ihrer Literatur äußern. Elf Autorinnen und Autoren aus acht verschiedenen indigenen Völkern (und sechs Nationalstaaten) schreiben oder sprechen über die Inhalte, Formen, AdressatInnen und den gesellschaftlichen Anspruch ihrer Werke.

Das Herzstück dieses Schwerpunktes aber bilden die literarischen Texte der AutorInnen. Neun von ihnen haben uns Gedichte zur Verfügung gestellt, einer einen Romanauszug und eine Autorin Lyrik und einen Prosatext, wofür wir uns an dieser Stelle ganz herzlich bedanken möchten. Neun AutorInnen dieser Ausgabe schreiben in ihren Sprachen und übersetzen ihre Arbeiten dann ins Spanische, wogegen David Aniñir aus Santiago de Chile und Nina Uma aus El Alto/Bolivien in ihren Gedichten/Rap-Texten sowohl Mapudungun bzw. Aymara als auch Spanisch vermischt benutzen.

Wir haben uns dafür entschieden, mindestens ein Gedicht jeder Autorin/jedes Autors in drei Sprachen (indigene Sprache/Spanisch/Deutsch) zu veröffentlichen, die weiteren Poeme in Spanisch/Deutsch bzw. nur in Deutsch. Letzteres gilt auch für die beiden Prosatexte. Alle literarischen Arbeiten dieser Ausgabe erscheinen hier erstmals in deutscher Sprache!

Die in diesem Heft vorliegende Auswahl ist weder erschöpfend noch gibt sie einen repräsentativen Überblick über in indigenen Sprachen Lateinamerikas geschriebene Literatur – umfasst leider auch überhaupt nicht die mündlich vermittelte. Es sind Dichter und Dichterinnen, die wir kennengelernt oder von denen wir gehört haben und deren Werk wir für bedeutsam halten. Vielleicht ist dies ja auch der erste Schritt auf dem Weg zu einem erweiterten literarischen Verständnis und öffnet für die ila und ihre LeserInnen neue Perspektiven.