Am 11. September 2013 jährt sich der Militärputsch gegen die Regierung Salvador Allendes und der Unidad Popular (UP) in Chile zum 40. Mal. Der Staatsstreich leitete eine 16 Jahre währende Diktatur ein, in der die Militärs unter Augusto Pinochet schwerste Menschenrechtsverletzungen an AktivistInnen der linken Opposition verübten und ein Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell durchsetzten, das Chile grundlegend veränderte. Den nationalen wie internationalen Großunternehmen und dem Bankensektir wurden alle gewünschten Freiheiten gewährt, die Aufgaben staatlicher Sozial- und Bildungspolitik wurden Privatfirmen übertragen, soziale Rechte und Errungenschaften der ArbeiterInnen abgeschafft.
Als christ- und sozialdemokratische Parteien 1989 mit der Diktatur den Übergang zu einer (eingeschränkten) Demokratie aushandelten, blieb das vom Militärregime durchgesetzte Wirtschafts- und Staatsmodell weitgehend unangetastet. Erst in den letzten Jahren haben die Proteste der Studierenden und SchülerInnen gegen die völlige Kommerzialisierung des Bildungswesens das neoliberale Modell massenhaft in Frage gestellt. Sie forderten nicht nur kostenlose und qualitativ gute Bildungsangebote für alle, sondern auch entsprechende Reformen im Gesundheitswesen und der Altersversorgung. Also nicht mehr und nicht weniger als die Schaffung eines Sozialstaats. Den hatte es in Chile schon einmal gegeben, und so verwundert es nicht, dass der politisierte Flügel der neuen Jugendbewegungen auch fragten, warum Chile seine sozialstaatliche Tradition verloren hat und wer dafür verantwortlich war.
Das Erbe der Diktatur erlebten die SchülerInnen und Studierenden selbst in aggressiven Einsätzen der Polizei (die in Chile noch immer Teil der Armee ist) gegen ihre Demonstrationen. Die Studierenden beschäftigten sich mit den Wurzeln der aktuellen Situation und setzten entsprechende Themen auf die Tagesordnung. Heute fordern immer mehr ChilenInnen die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung – denn das politische System Chiles basiert noch immer auf der nur leicht modifizierten Verfassung der Diktatur.
Teile der Studierenden fordern dazu auf, die Linke neu zu gründen. Dafür müsse man – so der studentische Aktivist Francisco Figueroa in dieser ila – die Erfahrungen der Regierungszeit Salvador Allendes und der Unidad Popular (1970-73) kritisch reflektieren und in ein neues linkes Projekt einbinden. Denn in jenen knapp tausend Tagen Volksregierung wurde kein fertiges sozialistisches Konzept umgesetzt. Im Gegenteil. Chile war in diesen Jahren ein riesiges Laboratorium, in dem neue Formen von Produktion, demokratischer Partizipation und revolutionärer Kulturarbeit ausprobiert und in Ansätzen umgesetzt wurden. Dabei gab es in allen Bereichen eine enorme Bandbreite von Ideen. In der Wirtschaft bewegten sich die Konzepte von einer Marktwirtschaft mit einem starken staatlichen Sektor, über traditionelle Staatssozialismusmodelle bis hin zu anarcholibertären Vorstellungen einer freien Assoziation selbstverwalteter Betriebe. In der Frage der Führung der Fabriken standen sich die gegenüber, die neue Formen der Mitbestimmung der Belegschaften an unternehmerischen Entscheidungen forderten, und jene, die eine Produktion unter Kontrolle der ArbeiterInnen erreichen wollten.
In der Kultur gab es diejenigen, die von den KünstlerInnen erwarteten, dass ihre Lieder, Texte oder Bilder von allen verstanden würden, und andere, die in der Auseinandersetzung mit der künstlerischen Avantgarde auch über innovative gesellschaftliche Konzepte nachdenken wollten. Die einen huldigten dem „Neuen chilenischen Lied“, die anderen luden den italienischen Komponisten (und Kommunisten) Luigi Nono nach Chile ein. Den nicht eben massenkompatiblen Werken Nonos lauschten chilenische Bergarbeiter andächtig. Vielleicht, weil sie höfliche Menschen waren, die anerkannten, dass der Genosse Musiker extra aus Italien angereist war, um den sozialen Wandel in Chile zu unterstützen, vielleicht aber auch, weil sie spürten, dass er mit seiner Musik Grenzen und Konventionen überschritt, um Befreiung neu zu denken.
Wir nähern uns in dieser ila der chilenischen Realität auf drei Ebenen. Auf der einen soll das die chilenischen Gesellschaft weiterhin prägende Erbe der Diktatur dargestellt werden. Auf der zweiten werden neue politische Ansätze und Initiativen aus dem heutigen Chile vorgestellt. Und schließlich wird, im Sinne der Forderung Franciscos Figueroas, an die Projekte und Organisationsansätze der Unidad Popular erinnert, in denen Poder Popular und ArbeiterInnenkontrolle nicht nur Schlagworte waren, sondern tatsächlich praktiziert wurden. Sie alle wurden brutal gestoppt. Ihre Wiederaufnahme und Weiterentwicklung steht weiter an – nicht nur in Chile.
Diese Ausgabe der ila wäre nicht ohne massive Unterstützung von FreundInnen zustande gekommen, die Themen vorgeschlagen und AutorInnen vermittelt haben. Ganz herzlichen Dank dafür nach Chile an Beatriz Brinkmann, Iván Saldías, Omar Saavedra Santis und ganz besonders an Pedro Holz, der wie bei allen Chile-Schwerpunkten der letzten zwei Jahrzehnte unser Kontaktmann und Koordinator in Santiago war.