Ende März 2018 beendeten die Lehrer*innen in São Paulo ihren fast dreiwöchigen Streik mit einem Teilerfolg: Die Abstimmung über die von ihnen bekämpfte örtliche Rentenreform wurde erst einmal vertagt. Auch in anderen Ländern kam es in den letzten Jahren zu massenhaften, heftig geführten Streiks im Bildungsbereich. In vielen Kämpfen um Demokratie, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit waren Lehrer*innen und ihre gewerkschaftlichen Organisationen aktiv beteiligt und standen häufig an vorderster Front.
Sicher gibt es auch bei uns zahlreiche progressive Pädagog*innen, aber das apolitische oder liberal-konservative Spektrum scheint weit zu überwiegen. Eine Ursache für diese Unterschiede könnte die soziale Lage der Lehrer*innen sein. Die Pädagog*innen in den meisten lateinamerikanischen Ländern verdienen viel weniger als ihre europäischen Kolleg*innen und sind auch in der beruflichen Hierarchie deutlich niedriger eingeordnet. Sie verfügen in der Regel über eine bürgerliche, sprich universitäre Ausbildung, werden für ihre Arbeit aber nur proletarisch entlohnt. Sie gehören also zu den sozialen Milieus in Lateinamerika, die zwar nicht direkt im Elend leben, denen es aber schwer fällt, finanziell über die Runden zu kommen. Gleichzeitig sind sie damit konfrontiert, dass die soziale Situation ihrer Schüler*innen oft noch deutlich prekärer ist und nicht wenige von ihnen hungrig zum Unterricht kommen. Das schärft den Blick der Lehrer*innen für die sozialen Missstände und auch auf diejenigen, die dafür verantwortlich sind.
All dies gilt vor allem für die Lehrer*innen an öffentlichen Schulen. Daneben existiert in Lateinamerika ein privates Schulwesen, das wesentlich umfangreicher ist als bei uns. Auch wenn dieses sehr ausdifferenziert ist – neben zahlreichen auf Gewinn orientierten Bildungseinrichtungen gibt es ein breites Spektrum kostenpflichtiger, aber nicht gewinn-orientierter Institute, die von Kirchen, religiösen Gemeinschaften oder von Schulvereinen betrieben werden –, ist festzustellen, dass die Lehrer*innen an Privatschulen in der Regel besser bezahlt werden. Sie haben aber unsicherere Arbeitsverträge und trauen sich deshalb selten, sich gewerkschaftlich zu organisieren oder gar zu streiken. Ausnahme: Uruguay. Aber hier schließen sich die Menschen auch traditionell eher für ihre Interessen zusammen als anderswo in Lateinamerika.
Bei den Recherchen für diese Ausgabe wurde schnell klar, dass es bei allen regionalen Unterschieden sehr viele gemeinsame Probleme gibt, mit denen engagierte Lehrer*innen konfrontiert sind. Lediglich unterbrochen durch die Regierungsphasen der linken Regierungen und der relativen wirtschaftlichen Prosperität dieser Jahre, steht das öffentliche Schulwesen seit der Herrschaft der zivil-militärischen Diktaturen in den siebziger Jahren und noch einmal verstärkt seit Beginn der neoliberalen Phase Anfang der Achtziger massiv unter Druck. Es wurde regelrecht kaputtgespart, um Geld für den Schuldendienst aufzubringen und gleichzeitig dem privaten Bildungsbusiness neue Geschäftsfelder zu eröffnen.
Die Lehrer*innen, die ihre Einkommen und die Qualität der öffentlichen Ausgaben verteidigen wollen, sind mit einer medialen Propaganda konfrontiert, die behauptet, Bildung sei vor allem eine Zukunftsinvestition für Individuen. Mit der Bildung sei es wie in anderen Wirtschaftsbereichen: Wer sich günstige Perspektiven eröffnen wolle, müsse investieren, andernfalls habe man keine Zukunft.
Dagegen halten die organisierten Lehrer*innen daran fest, dass Bildung ein Grundrecht ist und dass der Staat allen Kindern, egal ob arm oder reich, eine gute Ausbildung ermöglichen muss. Glücklicherweise stehen die Lehrer*innen trotz des neoliberalen Dauerfeuers mit diesem Anspruch nicht allein. Ihre Kampfaktionen, die sie immer wieder gegen die Führungen ihrer Gewerkschaften durchsetzen mussten, die auf Verhandlungen mit den Regierungen setzten, waren vor allem dann erfolgreich, wenn die Lehrer*innen vor Streiks mit den Eltern und Schüler*innen sprachen und ihnen die Gründe für ihren Widerstand erläuterten. Dann wurden diese in vielen Fällen zu Alliierten, die die Streikenden unterstützten und damit zum Erfolg vieler Kämpfe beitrugen.