Der zweite Stock der Vierten Transformation
Vor welchen Herausforderungen steht Claudia Sheinbaum als mögliche neue Präsidentin Mexikos?
von Carla Vázquez
Am 2. Juni werden 97,6 Millionen wahlberechtigte Mexikaner*innen über die Zukunft des Landes abstimmen. Doch an Überraschungen glaubt niemand: In Umfragen liegt Claudia Sheinbaum von der Regierungspartei MORENA monatelang stabil über 20 Prozent vor ihrer Herausforderin Xóchitl Gálvez. Dabei ist Sheinbaums Vorgänger und enger Vertrauter Andrés Manuel López Obrador (AMLO) bei sozialen Bewegungen alles andere als beliebt. Ein Blick zurück und nach vorne.
Bei der größten Wahl in der jüngeren mexikanischen Geschichte werden am 2. Juni 19000 Ämter neu besetzt, darunter die Präsidentschaft. Mit Überraschungen ist nicht zu rechnen. Die Regierungspartei MORENA (Bewegung Nationaler Erneuerung) hat mit ihren Koalitionspartnern PT (Arbeitspartei) und der rechten Partido Verde Ecologista (Grüne Umweltschutzpartei) systematisch ihre Dominanz an den Urnen ausgebaut. Die Oppositionsparteien PRI, PAN, PRD und MC liegen weit abgeschlagen zurück. Dieses Phänomen lässt sich nicht ohne die Figur von Noch-Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) und seine Empathie für große Teile der unteren Klassen erklären. Die Identitätspolitik rund um die Regierungspartei und die moralische Führung des Präsidenten werden jetzt zum Ende seiner Amtszeit zur Herausforderung.
Sympathisant*innen von MORENA bezeichnen die Kontinuität der MORENA-Regierung gerne als „zweiten Stock der Vierten Transformation“ (4T) (1). Wie sah der erste Stock aus, der Grundstein des Obradorismus, und vor welchen Herausforderungen steht die zukünftige Präsidentin?
Die Regierung hatte versprochen, die Plünderungen der Staatskasse, die Korruption in den öffentlichen Institutionen und die Diskriminierung gegen arm gemachte Bevölkerungsgruppen, indigene Gemeinschaften, Jugendliche und Frauen zu beenden. Außerdem sollte eine „Bewusstseinsrevolution“ stark gemacht werden, ein mexikanischer Humanismus unter dem Motto „die Armen zuerst“. Präsident López Obrador sprach sogar explizit davon, dass der Neoliberalismus beendet werden müsse. Aber um einen zweiten Stock errichten zu können, sollte man sich im Klaren sein, wie stabil das Fundament des ersten ist, um ein transformatorisches Projekt aufrechterhalten zu können.
Wer ist Claudia Sheinbaum?
Zuletzt war Claudia Sheinbaum Regierungschefin von Mexiko-Stadt, doch begonnen hat ihre politische Karriere 1986 bis 1987 in der Studierendenvertretung. Die Studierendenbewegung stellte sich gegen die neoliberalen Reformen des Bildungssystems und brachte in dieser Zeit eine ganze Reihe politischer Führungspersönlichkeiten hervor. Sheinbaum studierte Physik an der Universidad Nacional Autónoma de México und machte einen Master in Erneuerbaren Energien. Nach dem Abschluss arbeitete sie zunächst in der Wissenschaft, aber engagierte sich weiterhin in linken politischen Gruppen. Als Andrés Manuel López Obrador im Jahr 2000 Regierungschef von Mexiko-Stadt wurde, wechselte sie in die öffentliche Verwaltung und wurde Leiterin des Umweltministeriums. Das hat die Bindung der beiden intensiviert und sie haben seither nicht mehr ohneeinander gearbeitet.
Bei den Präsidentschaftswahlen 2006 hatte AMLO die Wählergunst auf seiner Seite. Er ließ sich für das Bündnis aus Partido de la Revolución Democrático (Partei der Demokratischen Revolution) und PT als Kandidat aufstellen. Claudia Sheinbaum, zu dem Zeitpunkt eine präsente politische Figur in Mexiko-Stadt und enge Vertraute von López Obrador, war seine Wahlkampfsprecherin. Doch AMLOs Charisma und seine politische Erfahrung fielen einem komplexen Wahlbetrug zum Opfer, und schließlich wurde Felipe Calderón von der konservativen PAN (Partei Nationale Aktion) zum Präsidenten ernannt. Claudia Sheinbaum äußerte sich öffentlich solidarisch mit AMLO. In den nachfolgenden Jahren baute sie eine soziale Bewegung auf, sie klopfte an Türen, organisierte öffentliche Versammlungen und legte das Fundament für eine politische Bewegung, die später als Partei MORENA López Obrador eine erneute Kandidatur ermöglichen würde.
Es besteht kein Zweifel daran, dass sie fest zur Vierten Transformation steht. Aber um den zweiten Stock aufzubauen, braucht es viel politisches Geschick, das sie erst noch unter Beweis stellen muss. MORENA muss sich außerdem den internen Widersprüchen stellen und die tief ins mexikanische politische System eingeschriebenen Machtstrukturen abbauen.
Kandidaten, die nicht im Mindesten links sind
MORENA hat immer wieder versucht, sich von anderen Parteien abzuheben, oft mit recht oberflächlichen Mitteln. So werden die Kandidat*innen nicht nach politischer Erfahrung oder moralischer Integrität aufgestellt, sondern nach Beliebtheit in der Bevölkerung. Außerdem muss Geschlechterparität gewahrt werden. Diese Kriterien werden mit zufälligen Verlosungen kombiniert, die Transparenz garantieren sollen, anstatt die Kandidat*innen strategisch aufzustellen. So wurde die Partei nicht unbedingt demokratischer, aber man kann nicht leugnen, dass sie seit ihrer Gründung 2011 bei jeder Wahl große Siege eingefahren hat. In 21 von 31 Bundesstaaten ist MORENA inzwischen an der Macht.
Das Tempo ihres Erfolgs könnte auch erklären, warum über die Jahre immer mehr Köpfe in ihren Reihen aufgetaucht sind, die wenig mit der linken Ideologie, auf die sich MORENA beruft, zu tun haben. Da ist zum Beispiel Manuel Espino, ehemaliger Vorsitzender der katholisch-konservativen PAN. 2021 schloss er sich der 4T an, trotz seiner ultrarechten Position und seiner Zugehörigkeit zu einer geheimen paramilitärischen Organisation namens Yunque, die ihrerseits mit internationalen Parteien und Organisationen wie Vox in Spanien vernetzt ist. Oder Eruviel Ávila, der ehemals als PRI-Mitglied Gouverneur des Bundesstaats Mexiko war und sich nun als Kandidat der MORENA-Koalition aufstellen lässt. MORENA bekennt sich zwar zu einem linken Pluralismus, aber viele ihrer Mitglieder vertreten nicht einmal ein Minimum an linken Prinzipien.
Unter AMLOs Charisma scheinen die Widersprüche zwischen Anspruch und Handeln zweitrangig. Sheinbaum hat diese Gabe jedoch nicht. Sie wird andere Wege finden müssen, um die internen Streits zu befrieden und die Partei zu einen.
AMLO hinterlässt eine positive Wirtschaftsbilanz …
Die Streits innerhalb der Partei sind nicht die einzigen Herausforderungen. Claudia Sheinbaum muss auch AMLOs offene Rechnungen begleichen. Von einigen Erfolgen ihres Vorgängers kann sie profitieren, doch vor allem den linken Bewegungen ist AMLO einiges schuldig geblieben.
Makroökonomisch hinterlässt AMLO seiner Nachfolgerin eine sehr positive Bilanz. Mit einem historischen Höchststand an ausländischen Direktinvestitionen, einem deutlichen Rückgang der Armut und einer der stabilsten Währungen der Welt hat die mexikanische Wirtschaft gute Chancen, dieses Jahr als die viertstärkste Volkswirtschaft weltweit abzuschließen. Trotz Pandemie und nachfolgender Wirtschaftskrise steht die mexikanische Bevölkerung unter anderem dank Umverteilungsmaßnahmen und der Anhebung des Mindestlohns um über 100 Prozent deutlich besser da als die Menschen in den meisten lateinamerikanischen Ländern.
Doch das ist nur die eine Seite von AMLOs Beliebtheit. Auf der anderen hoffen auch die Reichsten auf eine zweite MORENA-Legislaturperiode. Bänker und Großunternehmer haben in den letzten sechs Jahren ihre Gewinne unverschämt vermehrt. Carlos Slim, der reichste Mann Lateinamerikas, hat sein Nettovermögen verdoppelt, vor allem wegen seiner Bauunternehmen, die vom kontroversen Projekt Tren Maya (siehe ila 462, 468) profitiert haben. Auf Diskursebene macht die aktuelle Regierung trotzdem politische und wirtschaftliche Eliten dafür verantwortlich, durch die neoliberalen Maßnahmen und die Korruption der letzten Jahrzehnte die Nation geplündert zu haben. Verschiedene Gemeinden und soziale Organisationen sehen hingegen in Infrastrukturprojekten der Regierung wie dem Tren Maya neue Formen der Kolonisierung, Ausbeutung von Gemeingütern und kapitalistischen Herrschaft.
Es wäre zu viel, von einem Ende des Neoliberalismus zu sprechen, wie López Obrador es damals versprochen hat. Aber wenn die zukünftige Präsidentin die wirtschaftliche Stabilität geschickt nutzt und die Umverteilungspolitik ausbaut, gibt es gute Chancen, die Armut weiter zu reduzieren. und einige offene Rechnungen
Eine der größten Herausforderungen wird die Gewalt bleiben. AMLO hat seine Versprechen nicht eingehalten, vielleicht war ihm selbst damals der Ernst der Lage nicht bewusst. Als entschiedener Gegner von Felipe Calderóns (2006-2012) militaristischer Politik hat er immer wieder darauf gepocht, die Armee zurück in die Kasernen zu schicken. Doch das ist wohl an der Realität gescheitert, dass sich organisierte kriminelle Gruppen, die inzwischen wichtige Teile des Territoriums, der Wirtschaft und des Alltags kontrollieren, untereinander Auseinandersetzungen liefern. Nach über fünf Jahren unter dem Motto „Umarmungen statt Schüsse“ hat AMLO seine befriedende Strategie aufgegeben, was aber genauso wenig zu mehr Sicherheit und Frieden geführt hat.
Die Regierung von López Obrador legte so viel Vertrauen in das Militär, dass sie ihm die Verwaltung strategischer Institutionen anvertraute, den Zoll, den neuen Flughafen Felipe Ángeles (AIFA), Infrastrukturprojekte wie den Interozeanischen Korridor und den Tren Maya. Nach offiziellen Angaben haben sich die Militärausgaben pro Kopf zwischen 2018 und 2023 verdoppelt. Solange das Militär Rückendeckung bekommt, werden die Befürchtungen vor Menschenrechtsverletzungen wachsen. Schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen sind allerdings in der letzten Legislaturperiode zurückgegangen.
Ungelöst bleibt der Fall der 43 verschwundenen Studenten von Ayotzinapa (siehe ila 474) (2). Er steht symbolisch für die noch immer herrschende Straflosigkeit und die Unantastbarkeit des Militärs. Das wird beschuldigt, mitverantwortlich für dieses Verbrechen zu sein, das die jüngste politische Geschichte so sehr geprägt hat. Aber dem Militär die Macht zu entziehen, die ihm gegeben wurde, wird nicht einfach sein.
Die Justizreform darf nicht länger aufgeschoben werden
Außerdem wartet ein ganzes Bündel angefangener Reformen auf Sheinbaum, die AMLO Anfang 2023 auf den Weg gebracht hatte, und weitere, die er versprochen, aber nicht konkretisiert hat. Dazu zählt die Energiereform. López Obrador hat zwar versucht, die Privatisierung des Sektors rückgängig zu machen und die Staatsfirmen zu retten, aber Sheinbaum steht jetzt vor der komplexen Aufgabe der Energiewende. In einem Land, wo es ständig Stromausfälle gibt, muss sie unter dem Druck der Unternehmensgruppen die Sicherheit und Nachhaltigkeit der Energieversorgung garantieren.
Dringend sind auch die Steuer- und Justizreformen, um die begonnenen Politiken für mehr Umverteilung und gegen Straflosigkeit voranzutreiben. AMLO hat vorgesehen, den Obersten Gerichtshof, der vielen seiner Reformprojekte Steine in den Weg gelegt hat, zu reformieren. Die Zahl der Richter*innen soll von elf auf neun reduziert und ihre Pension von aktuell rund 11000 US-Dollar abgeschafft werden. Außerdem sollen die Minister*innen, Richter*innen und Beamt*innen von der Bevölkerung gewählt werden und ihre Amtszeit soll sich nach ihrer Beliebtheit an den Urnen richten.
Die Privilegien einer der drei Gewalten anzutasten – mit der AMLO überdies unzählige Konflikte hatte – wird eine Herausforderung. Die Justiz ist unfähig, ineffizient und korrupt. Nur ein Beispiel: Aktuell sind 1647 Richter*innen und Beamt*innen für 26,8 Millionen Anklagen im Jahr 2022 zuständig. Die Reform darf nicht länger aufgeschoben werden. Gleichzeitig muss sie sehr sorgfältig ausgearbeitet werden, um demokratische Prinzipien zu schützen und nicht etwa Rückschritte zu machen, die sich negativ auf unschuldige Personen auswirken. Denn das Rechtssystem hat nach wie vor diskriminierende blinde Flecke.
Besorgniserregend ist vor allem der Vorschlag, die Präventivhaft auszuweiten. Seitdem diese 2019 eingeführt wurde, sitzen fast 100000 Personen ohne Verurteilung im Gefängnis, das waren im Jahr 2023 39 Prozent aller Inhaftierten. Wiederum 50,2 Prozent von ihnen wurden durch den Mechanismus der Präventivhaft festgenommen. Mit dem Vorwurf von Delikten wie organisierter Kriminalität, Mord, Vergewaltigung, Entführung und Menschenhandel wird die Unschuldsvermutung zunichte gemacht. López Obrador hatte vorgeschlagen, auch in Fällen vermuteter Wirtschaftskriminalität Präventivhaft zu ermöglichen, von Erpressung über Steuerhinterziehung bis zur Herstellung synthetischer Drogen. Obwohl diese Delikte gravierend sind, ist die Reform innerhalb eines nicht funktionierenden Justizsystems, in dem viele Menschen in Gefangenschaft bleiben, weil sie sich keine Verteidigung leisten können, nicht haltbar.
Am 1. Oktober beginnt mit der ersten weiblichen Präsidentin in der Geschichte des Landes der Aufbau des zweiten Stocks der 4T. Einen Monat vorher, zum Beginn der neuen Legislaturperiode, werden die Reformen wieder aufgenommen, die AMLO im Februar dieses Jahres vorgeschlagen hatte. Erst in ein paar Monaten werden wir sehen, ob sich mit dem von AMLO angekündigten mexikanischen Humanismus eine solide Struktur mit einer demokratisierenden Politik aufbauen lässt. Wird Claudia Sheinbaum feste Pfeiler für den zweiten Stock errichten können?
Anmerkungen
1) AMLO bezeichnet sein politisches Projekt als „Vierte Transformation (4T)“. Es soll die vierte große Veränderung des politischen Systems Mexikos sein, nach der Unabhängigkeit (1821), den modernisierenden Reformen unter Benito Juárez (1854 und 1876) und der Mexikanischen Revolution (1910).
2) 2014 wurden 43 Studenten der Escuela Normal Rural „Raúl Isidro Burgos“, einer Hochschule in Ayotzinapa im Bundesstaat Guerrero, gewaltsam verschwinden gelassen, als sie sich auf dem Weg zu einer Demo in Mexiko-Stadt befanden. Politik, Polizei und Militär sollen in das Verbrechen verwickelt sein.
Carla Vázquez ist Projektmanagerin im Regionalbüro Mexiko-Stadt der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Übersetzung: Mirjana Jandik